24.12.12

Die zwölfte Nacht von Annemarie Nikolaus


 Treganna, Cornwall, Weihnachtsabend 1072

Der Sturm toste um die Große Halle und übertönte wieder und wieder den Lärm der ausgelassen feiernden Dienstboten des Schlosses. Manch einem blieb dann das Lachen im Halse stecken; andere bekreuzigten sich und blickten erschreckt umher. 
Das Feuer in den beiden mächtigen Kaminen hatte Mühe, sich gegen den stetigen Druck des Windes zu behaupten. Rauch trieb bis hinüber zu dem hohen Tisch, an dem Sir Geoffroi, der neue Herr von Treganna Castle, mit seiner Familie saß: neben seiner Frau die Stieftocter Caitlin; an seiner Seite Amis, der eigene Sohn.
Der kleine Amis hustete, als er den Rauch einatmete. Als er immer angestrengter um Luft rang, klopfte Caitlin ihm auf den Rücken und hielt ihm dann eine Tasse Wasser hin.
Sorge stand in ihren Augen und sie lächelte mitleidig. „Trink; dann geht es dir gleich besser.“ Hoffentlich erstickte er daran. Wie sie ihn hasste, ihren Stiefbruder; mehr noch als den Normannen, mit dem ihre Mutter eine neue Ehe eingegangen war. Möge Gott verhüten, dass diesem Schwächling eines Tages Treganna zufiel, das doch ihr Erbe war. 
Amis überlief ein Schauer, als der Sturm plötzlich eine Tonlage höher pfiff.
„Frierst du?“ Sir Geoffroi wickelte ihn fester in seinen warmen Plaid.
„Nein, Sire. Ich habe mich erschrocken.“
„Vor dem bisschen Wind?“ Sir Geoffroi klang nun doch ein wenig ungehalten. „So nahe am Meer hat er mehr Kraft, als du es von ... Zuhause ... gewohnt bist.“
„Nay, Mylord,“ Wieder blickte Caitlin ganz sorgenvoll. „Das ist nicht der Sturm, der da draußen singt. Das sind ...“ Sie ließ ihre Stimme verklingen.
Amis wurde bleich und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.
„Caitlin! Du wirst diesem Aberglauben keine Nahrung geben.“ 
„Wie könnt Ihr das sagen, Mylord! Was wisst Ihr von unserem Land!“ Caitlin sprang empört auf und ließ sich auch nicht vom zornigen Ruf ihrer Mutter zurückhalten.
Nicht lange darauf kam Amis in Caitlins Schlafzimmer. „Schwester, was ist das, was du mir nicht erzählen darfst?“
Caitlin verdrehte die Augen über die verhasste Anrede. „Was wohl? Dein Vater will nicht, dass ich dir erzähle, was du von ihm nicht erfahren kannst.“ Sie winkte ihn näher ans Feuer und senkte die Stimme. „Wind, ja; das ist wohl wahr. Aber er kommt nicht vom Meer. Es ist die wilde Jagd, die in den Nächten bis Epiphania ihre Rache sucht.“
Der Junge räusperte sich und versuchte, seiner Stimme einen tieferen, erwachsenen Klang zu geben. „Caitlin, das ist wirklich ein Aberglaube.“
„Hast du nicht die Furcht in den Gesichtern der Dienstboten gesehen?“ Caitlin unterdrückte ein triumphierendes Lächeln, als der Blick des Jungen unsicher zu flackern begann. „Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Du bist doch nur ein kleiner Junge. Du kannst nichts dafür.“ 
Amis fuhr empört hoch.
„Es sind unsere erschlagenen Krieger.“ Caitlin lächelte. „Vater führt sie. Ihr habt unser Land gestohlen. Und seine Frau.“


Das Wetter wurde selten besser in den nächsten Tagen. Amis schlich furchtsam umher. Einmal zeigte Caitlin ihm ein von Spuren verwüstetes Schneefeld vor dem Schloss und der Junge begann, unbeherrscht zu zittern und nach Atem zu ringen. 
Ein anderes Mal folgten sie am Strand Hufspuren, die zum Eingang einer Höhle zwischen den Klippen führten. Caitlin nickte ihm bedeutsam zu und beobachtete unter gesenkten Augenlidern, wie er erbleichte, als sie vorschlug, die Höhle zu erforschen. Als sie nach seiner Weigerung allein gehen wollte, klammerte er sich furchtsam an sie und flehte, ihn nicht zurückzulassen. Interessiert beobachtete sie, dass er kaum Luft zu bekommen schien. Hieß es nicht, man könne vor Angst sterben?


Der Abend vor Epiphania brachte zum Schnee eine Springflut, die die tiefer gelegenen Ställe bedrohte. Sir Geoffroi hieß Amis, bei der Bergung der Pferde zu helfen; Caitlin bot sich freiwillig an. Um die Tiere vor dem Wetter zu schützen, wurden sie in die Höhlen in den Klippen gebracht.
Als es dunkel geworden war, führte Caitlin Amis abseits, wo es eine weitere Höhle geben sollte. Als sie den Windschatten verließen, pfiff der Sturm in hohen Tönen und fegte ihnen  etwas Mächtiges entgegen. Mit einem Aufschrei ließ Amis sein Pferd los und rannte davon. Den Hang hinunter zum Meer stürzte er und überschlug sich mehrfach, bevor er sich an einem Felsvorsprung halten konnte.
Gleich darauf kniete Caitlin neben ihm und half ihm, sich hinzusetzen.
Amis keuchte stoßweise. „Was ... was war das?“
„Was da auf uns zu kam?“ Büsche waren das gewesen, die der Wind losgerissen hatte; für Caitlin ein vertrauter Anblick. Doch sie machte ein besorgtes Gesicht. „Habe ich dir nicht gesagt, dass sich unsere gemordeten Krieger rächen werden? Heute Nacht – oder sie müssen ein weiteres Jahr warten.“
Amis’ Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Da war ein Geräusch über ihnen; dann schlugen Steine neben ihnen auf und rollten weiter den Hang hinunter.
„Dort oben ist jemand“, stammelte Amis mit bleichen Lippen.
Caitlin nickte. „Ich höre Hufschlag. Reiter.“
Amis röchelte und griff sich an die Brust. Sein Blick brach.

© 2012 Annemarie Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de

Mit historischen Randnotizen ergänzt und redigiert, veröffentlicht in: "Verjährt". Historische Kurz-Krimis.  Taschenbuch bei Amazon . E-Book auf allen großen Plattformen,  z..B. bei Kobo, Amazon, Weltbild, Google Play, Beam E-Books, XinXii, Smashwords

Von Annemarie Nikolaus ist auch der Weihnachtskrimi am 20. Dezember "Fromme Gaben"
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