Treganna, Cornwall, Weihnachtsabend 1072
Der Sturm toste um die Große Halle
und übertönte wieder und wieder den Lärm der ausgelassen feiernden Dienstboten
des Schlosses. Manch einem blieb dann das Lachen im Halse stecken; andere
bekreuzigten sich und blickten erschreckt umher.
Das Feuer in den beiden mächtigen
Kaminen hatte Mühe, sich gegen den stetigen Druck des Windes zu behaupten.
Rauch trieb bis hinüber zu dem hohen Tisch, an dem Sir Geoffroi, der neue Herr
von Treganna Castle, mit seiner Familie saß: neben seiner Frau die Stieftocter Caitlin; an seiner Seite Amis, der eigene Sohn.
Der kleine Amis hustete, als er den Rauch
einatmete. Als er immer angestrengter um Luft rang, klopfte Caitlin ihm auf den
Rücken und hielt ihm dann eine Tasse Wasser hin.
Sorge stand in ihren Augen und sie lächelte
mitleidig. „Trink; dann geht es dir gleich besser.“ Hoffentlich erstickte er
daran. Wie sie ihn hasste, ihren Stiefbruder; mehr noch als den Normannen, mit
dem ihre Mutter eine neue Ehe eingegangen war. Möge Gott verhüten, dass diesem
Schwächling eines Tages Treganna zufiel, das doch ihr Erbe war.
Amis überlief ein Schauer, als der Sturm
plötzlich eine Tonlage höher pfiff.
„Frierst du?“ Sir Geoffroi wickelte ihn fester
in seinen warmen Plaid.
„Nein, Sire. Ich habe mich erschrocken.“
„Vor dem bisschen Wind?“ Sir Geoffroi klang
nun doch ein wenig ungehalten. „So nahe am Meer hat er mehr Kraft, als du es
von ... Zuhause ... gewohnt bist.“
„Nay, Mylord,“ Wieder blickte Caitlin ganz
sorgenvoll. „Das ist nicht der Sturm, der da draußen singt. Das sind ...“ Sie
ließ ihre Stimme verklingen.
Amis wurde bleich und starrte sie aus weit
aufgerissenen Augen an.
„Caitlin! Du wirst diesem Aberglauben keine
Nahrung geben.“
„Wie könnt Ihr das sagen, Mylord! Was wisst
Ihr von unserem Land!“ Caitlin sprang empört auf und ließ sich auch nicht vom
zornigen Ruf ihrer Mutter zurückhalten.
Nicht lange darauf kam Amis in Caitlins
Schlafzimmer. „Schwester, was ist das, was du mir nicht erzählen darfst?“
Caitlin verdrehte die Augen über die verhasste
Anrede. „Was wohl? Dein Vater will nicht, dass ich dir erzähle, was du von ihm
nicht erfahren kannst.“ Sie winkte ihn näher ans Feuer und senkte die Stimme.
„Wind, ja; das ist wohl wahr. Aber er kommt nicht vom Meer. Es ist die wilde
Jagd, die in den Nächten bis Epiphania ihre Rache sucht.“
Der Junge räusperte sich und versuchte, seiner
Stimme einen tieferen, erwachsenen Klang zu geben. „Caitlin, das ist wirklich
ein Aberglaube.“
„Hast du nicht die Furcht in den Gesichtern
der Dienstboten gesehen?“ Caitlin unterdrückte ein triumphierendes Lächeln, als
der Blick des Jungen unsicher zu flackern begann. „Aber du brauchst dich nicht
zu fürchten. Du bist doch nur ein kleiner Junge. Du kannst nichts dafür.“
Amis fuhr empört hoch.
„Es sind unsere erschlagenen Krieger.“ Caitlin
lächelte. „Vater führt sie. Ihr habt unser Land gestohlen. Und seine Frau.“
Das Wetter wurde selten besser in den nächsten
Tagen. Amis schlich furchtsam umher. Einmal zeigte Caitlin ihm ein von Spuren
verwüstetes Schneefeld vor dem Schloss und der Junge begann, unbeherrscht zu
zittern und nach Atem zu ringen.
Ein anderes Mal folgten sie am Strand
Hufspuren, die zum Eingang einer Höhle zwischen den Klippen führten. Caitlin
nickte ihm bedeutsam zu und beobachtete unter gesenkten Augenlidern, wie er
erbleichte, als sie vorschlug, die Höhle zu erforschen. Als sie nach seiner
Weigerung allein gehen wollte, klammerte er sich furchtsam an sie und flehte,
ihn nicht zurückzulassen. Interessiert beobachtete sie, dass er kaum Luft zu
bekommen schien. Hieß es nicht, man könne vor Angst sterben?
Der Abend vor Epiphania brachte zum Schnee
eine Springflut, die die tiefer gelegenen Ställe bedrohte. Sir Geoffroi hieß
Amis, bei der Bergung der Pferde zu helfen; Caitlin bot sich freiwillig an. Um
die Tiere vor dem Wetter zu schützen, wurden sie in die Höhlen in den Klippen
gebracht.
Als es dunkel geworden war, führte Caitlin
Amis abseits, wo es eine weitere Höhle geben sollte. Als sie den Windschatten
verließen, pfiff der Sturm in hohen Tönen und fegte ihnen etwas Mächtiges entgegen. Mit
einem Aufschrei ließ Amis sein Pferd los und rannte davon. Den Hang hinunter
zum Meer stürzte er und überschlug sich mehrfach, bevor er sich an einem
Felsvorsprung halten konnte.
Gleich darauf kniete Caitlin neben ihm und
half ihm, sich hinzusetzen.
Amis keuchte stoßweise. „Was ... was war das?“
„Was da auf uns zu kam?“ Büsche waren das
gewesen, die der Wind losgerissen hatte; für Caitlin ein vertrauter Anblick.
Doch sie machte ein besorgtes Gesicht. „Habe ich dir nicht gesagt, dass sich
unsere gemordeten Krieger rächen werden? Heute Nacht – oder sie müssen ein weiteres
Jahr warten.“
Amis’ Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Da war ein Geräusch über ihnen; dann schlugen
Steine neben ihnen auf und rollten weiter den Hang hinunter.
„Dort oben ist jemand“, stammelte Amis mit
bleichen Lippen.
Caitlin nickte. „Ich höre Hufschlag. Reiter.“
Amis röchelte und griff sich an die Brust. Sein Blick brach.
© 2012 Annemarie Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de
Mit historischen Randnotizen ergänzt und redigiert, veröffentlicht in: "Verjährt". Historische Kurz-Krimis. Taschenbuch bei Amazon . E-Book auf allen großen Plattformen, z..B. bei Kobo, Amazon, Weltbild, Google Play, Beam E-Books, XinXii, Smashwords
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