16.12.12

Broker Teil 2 von Monique Lhoir



Die ersten Sonnenstrahlen schafften es durch die Ritzen der Jalousie, als Henry erwachte. Er schnellte hoch und starrte auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Um acht Uhr hätte er in Heathrow einchecken müssen. Ungläubig rieb er sich die Augen, setzte bedächtig ein Bein nach dem andere aus dem Bett. Er fühlte sich krank, hatte Alpträume gehabt, schreckliche Alpträume. Vorsichtig lugte er ins Wohnzimmer und schloss rasch die Tür. Das war kein Alptraum. Sein Wohnraum sah aus wie nach der Schlacht von Waterloo. Stöhnend legte er die Stirn an das kühle Holz des Rahmens.
Doch dann straffte Henry energisch den Rücken. Nein, so schnell ließ er sich nicht unterkriegen. Er würde seinen unbekannten Feinden gegenübertreten, ihnen die Stirn bieten, gegen sie mit seiner ganzen Manneskraft kämpfen. Er, Henry Miller aus London, würde siegen – so, wie er immer gesiegt hatte.
Zuerst musste er den Flug umbuchen. Anschließend wollte er auf diesen unsichtbaren Hausgeist warten und ihm eine Erklärung für das Chaos abgeben. Mutig wollte er anschließend seinen Feinden in die Augen blicken und ihnen seine Meinung sagen, sie vielleicht sogar töten. Jawohl, so kampflos räumte ein Henry Miller nicht das Feld. Sie sollten wissen, wie mies ihre Geschäfte waren. Sie sollten wissen, dass sie damit ganze Länder und Völker zerstörten.
Henry tapste mit nackten Füßen entschlossen ins Bad. Auch hier blinkte und funkelte es vor Sauberkeit. Wie Hohn mutete ihn der frische Zitronenduft an. Wer weiß, welche Gifte dieses Mittel enthielt, das den Geruch verursachte und ihn langsam und qualvoll sterben ließen.
Trotzig drehte er den Hahn auf, ließ absichtlich die Duschtür einen Spalt offen stehen, sodass Wasser ins Bad laufen konnte. Seine Angst mutig überwindend stellte er sich laut singend unter den warmen Strahl, nahm übertrieben viel von dem giftig-grünen Gel und sah zu, wie der Schaum sich auf dem spiegelnden Chrom absetzte und anschließend über die Fliesen lief, sodass der Boden fast einem Wolkenmeer glich. Anschließend riss er mehrere Handtücher gleichzeitig vom Haken sowie aus dem Regal, schmiss eines auf den Boden, trat mit nassen Füßen mehrmals darauf herum, wickelte sich ein anderes um den Kopf und ein weiteres um die Hüften.
Triumphierend begutachtete er den vom Schwitzwasser verblassten Spiegel, an dem langsam Wassertropfen wie zum endgültigen Todesschlag hinunterliefen. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Langsam hob Henry beide Händen, spreizte die Finger und packte an das Glas. Genüsslich ließ er sie kreisen und verursachte so hässliche Schlieren, bis er verschwommen sein unrasiertes Gesicht sah. Nach vollendeter Arbeit trommelte er sich mit beiden Fäusten auf die Brust und ließ einen brüllenden Tarzanschrei los.
Ein Echo erklang. Henry hielt erschrocken inne und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Vorsichtig, aber dieses Mal leiser und um einige Oktaven tiefer, wiederholte er sein Manöver. Erneut ein Echo. Aber das war nicht seine Stimme, es klang – viel heller.
Wie erstarrt verharrte er, unfähig sich zu bewegen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass hinter der Tür sein Feind lauerte. Der Mensch oder das Wesen, das seinen Abstieg in Schmutz und Elend vorbereitet hatte, das seine gut und sorgfältig aufgebauten Mauern erschütterte und ihn in den Ruin treiben wollte. Ein Ungeheuer, das ihn, Henry Miller, mit seinen menschlichen Schwächen bloßstellte, ihn damit verletzbar machte und aus Habgier vernichten wollte.
Henry holte tief Luft. Ein Kloß schnürte ihm die Kehle zu. Nun war es so weit. Wohl oder übel musste er in die feindliche Welt hinaus. Wie gern hätte er einen solchen peinlichen Auftritt vermieden. Mit unsicherem Blick schaute er auf das Handtuch, das seine Hüften umschlang, um sicherzugehen, dass alles Notwendige bedeckt war. Vorsichtig drückte er die Klinke, öffnete die Tür einen Spalt und lugte hindurch.
Da stand sein Feind, inmitten des Chaos’, das er am Vorabend verbreitet hatte, hielt sich die Hand vor dem Mund und schaute mit großen Augen um sich. Ihre langen, rotlockigen Haare waren unordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Gehilfin des Teufels, die Besitzerin der schwarzen Pumps, die sein Leben zum Stillstand gebracht hatten. Entschlossen öffnete Henry mit einem Ruck die Tür, sodass er in voller Größe im Rahmen stand. Die junge Frau drehte sich erschrocken um, starrte ihn an und ließ erneut einen spitzen Schrei los.
Henry wuchs um einige Zentimeter, stolz darauf, dass er mit seiner Verkleidung den Feind in Angst und Schrecken versetzt hatte. Siegessicher und mit neuem Mut lief er mit nassen Füßen über den Marmorboden zur Kommode und hielt das Corpus delicti in die Höhe.
„Sind das Ihre?“, fragte er, bemüht, ein Stottern zu unterdrücken.
„Ich ... ich ... habe sie gestern nach dem Putzen vergessen“, verteidigte sich die Gehilfin des Teufels mit fremdländischem Akzent.
Henry stellte die Schuhe zurück auf den Boden.
„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er bescheiden, „könnten Sie die Pumps einmal anziehen?“ Er blickte verschämt in ihr junges, ängstliches Gesicht. Sommersprossen tanzten auf ihrer Nase. Henry fand sie atemberaubend. Seine Züge glätteten sich, fast war ein Lächeln zu erkennen. Er hatte gesiegt. Sein Feind war am Boden zerstört und so konnte er Großmut walten lassen.
„Natürlich ...“, stotterte die junge Frau und wechselte die Schuhe.
„Bezaubernd, wirklich bezaubernd“, sagte er um einen herrschaftlichen Ton bemüht und ohne sie aus den Augen zu lassen, senkte aber rasch den Blick, als er seinen Magen knurren hörte. Wie auf Kommando rutschte ihm im gleichen Moment das Handtuch von den Hüften. Rasch bückte er sich, wohl darauf bedacht, ihr nicht sein nacktes Hinterteil entgegenzuhalten, und bedeckte seine Blöße. Henry spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Sie kicherte.
„Haben Sie heute noch etwas vor?“, fragte er gefasst und knotete das Handtuch fest.
„Putzen“, gab sie knapp zur Antwort.
„Es ist Weihnachten.“
Sie senkte den Kopf. „Haben Sie in London Familie?“, wollte Henry weiter wissen.
„Óchi.“ Eine Träne löste sich und befeuchtete ihre Wange.
Henry grinste erleichtert. „Pos ße lene?“, fragte er.
Überrascht sah sie auf. „Helena.“

***

Yannis schlenderte mit hoch gekrempelten Hosenbeinen am Strand entlang und schaute in den sternenklaren Himmel. Seine dunklen Locken fielen ihm ungekämmt in die Stirn. Anschließend blickte er auf die hell erleuchtete, strahlend weiße Villa. Mama und Papa hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie Millionäre waren. Statt sich Dienstboten zu holen, hatte Mama für die riesige Familie, die sich am heutigen Weihnachtstag versammelt hatte, gebacken und gekocht. Die Kinder und Enkelkinder tobten durchs Haus und warteten ungeduldig auf ihre Geschenke.
Yannis atmete tief durch. Als vor einem Jahr die Londer Broker, für die er gearbeitet hatte, den Zerfall der Euro-Zone in der Öffentlichkeit simulierten, war ihm bewusst gewesen, dass sich die Schlagzeilen in allen Weltzeitungen überschlagen würden: „Der weltgrößte Währungs- und Anleihebroker trifft bereits konkrete Vorbereitung für einen Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion“ – „Druck der Drachme wird vorbereitet“ – „Steht der Drachme vor der Rückkehr?“ – „Trockenübung für die Drachme“ – „Geheimer Zeitplan: Griechenland hat genau ein Wochenende Zeit, um die Drachme einzuführen. In 46 Stunden muss alles generalstabsmäßig vor sich gehen. Denn es muss gelingen, die Operation in der Zeit über die Bühne zu bringen, in der alle Börsen der Welt im Wochenende sind.“ – „US-Firmen planen für griechischen Euro-Austritt“. Und er, Henry Miller, hatte von der Angst der Anleger und der Währungsspekulanten profitiert. In nur wenigen Monaten konnte er soviel Geld beiseite schaffen, wie in den ganzen zehn Jahren zuvor nicht. Die Planungen für das vierte Hotel auf Kreta waren bereits abgeschlossen. Und die Touristen kamen. Seine neue Yacht hatte er in Auftrag gegeben.
„Kala Khristougenna.“ Helena trat bescheiden an seine Seite.
„Kala Khristougenna.“ Yannis griff in seine Hosentasche, zog den Schlüsselbund seines Penthouses mit der Fernsteuerung hervor und schleuderte ihn weit aufs Meer hinaus. Henry Miller gab es nicht mehr und man würde ihn nie finden, dafür hatte er jahrelang gearbeitet. Er war kein Londoner Broker mit Macken, er war mit Leib und Seele Grieche – aber das musste er erst wieder lernen. Mama und ihre Kochkunst würden dazu beitragen. Er fasste Helena an die Hand und lief befreit mit ihr in die weiße Villa. Mama würde bald noch mehr Enkelkinder versorgen müssen.

© Monique Lhoir

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