„Wenn du das Fenster heute öffnest, bring ich dich um.“
Wieso glaubte Piet, dass ich ausgerechnet heute das Fenster
öffnen würde? An keinem Tag, in keiner Woche, schon seit fünf Monaten habe ich
es nicht geöffnet.
Ich stehe morgens auf, trinke den Tee (der grässlich schmeckt),
den Piet mir kocht. Dann mache ich das Bett, verschließe das Brillenetui, das
er immer liegen lässt, bevor er das Haus verlässt und mich sorgsam in mein
Gefängnis einsperrt.
Heute hat er zusätzlich ein Messer neben das Fenster gelegt.
Will er, dass ich mich umbringe? Oder soll ich hinter der Tür warten und ihn
umbringen, noch bevor er die Tasche abgestellt hat?
Nein er legte das Messer vor das Fenster.
Ist er nach fünf Monaten das erste Mal nachlässig geworden?
Ich suchte im Schrank einen passenden Nagellack. Nicht
korallenrot, sondern blutrot. Zuerst lackierte ich die Zehennägel. Schon immer
lackierte ich die Nägel, wenn ich nachdenken wollte. Bevor ich vor fünf Monaten
zu Piet in dieses Gefängnis zog. Dumm und verliebt wie ich war.
Ich legte das kleine Schwarze und den Schmuck, den mir Piet
zum Einzug schenkte, zurecht. Ich wollte mit seinem Schmuck sterben mit dem
Nagellack aus meinem alten Leben an den Zehennägeln.
Alle Kraft und Macht kommt von innen. Die Tat ist die Blüte
des Gedanken.
Aus dem Messer am Fenster zu schließen, dass ich sterben
würde, war eine besonders absurde Blüte des Gedanken. Ihn umzubringen, ebenso.
Obwohl ich Grund dazu gehabt hätte. Ich ließ die Schikanen
fünf Monate lang zu. Wieso hätte ich gerade heute einen Grund haben sollen? Es
war, wie er sagte: Ich war selber Schuld an meinem Gefängnis.
Aber wieso legte er ein Messer an das Fenster?
Wollte er, dass ich begreife, wie ungerecht, wie brutal, wie
hinterhältig er zu mir war? Wollte er jetzt vor Weihnachten ein Geschenk
machen? Nikolaus bringt den Guten Geschenke, den Bösen zeigt Krampus den Stock.
Den Bösen zeigt Piet das Messer.
Ich hatte das Messer noch nicht in die Hand genommen. Wer
die Macht hat zu manipulieren, der muss sich auch der Verantwortung bewusst
sein. Ich war nicht Schuld an meinem Gefängnis. Ich war nur schwächer als er.
Ich nahm das Messer in die Hand. Ich ritzte mir in die
Handfläche und beobachtete das Blut.
Ich ließ es hervor quellen. Es quoll hervor. Dann schrieb
ich mit der Handfläche auf den blankpolierten Marmor der Arbeitsfläche in der
Küche: WEG.
Ich wollte lieber schreiben: „Ich bin dann mal weg“. Ein
wunderbarer Satz, doch dafür reichte das Blut nicht. Ich hatte nicht den Mut,
mehr zu ritzen. Deswegen musste ein Wort reichen. So leicht. Es war ganz
leicht. Ich richtete nur wenig Gepäck her. Einen kleinen Koffer. Ich öffnete
das Fenster, ließ es weit offen. Ließ das Kleid und den Schmuck auf dem weißen
Marmor zurück. Das Messer nahm ich mit.
WEG
Zu gehen, war nur ein erster Schritt. Dass begriff ich sehr
schnell. Es war der 6. Dezember, es war kalt und regnerisch. Keinesfalls
weihnachtlich. Ich mietete mich in einer kleinen Pension in der Innenstadt ein.
Ich betrat das Zimmer im dritten Stock. Ein sauber gemachtes Bett, eine
einfache Kommode, ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Das Bad war so sauber wie
unser Bad immer hätte sein sollen, und doch brachte ich es nicht fertig, es so
sauber zu putzen. Piet fand immer einen Grund mich zu bestrafen.
Ich wollte nicht an einem Ort wohnen, der mich so an mein
Gefängnis erinnerte. Also verließ ich die Pension wieder, checkte aus, ohne zu
zahlen. Ich hatte mich mit Namen und Anschrift angemeldet – Piet hätte mich
hier eh leicht gefunden.
Ich kaufte ein Ticket für den Nachtzug nach Lissabon.
Lissabon klang wärmer als Düsseldorf und der Zug versprach auch wärmer zu sein
als eine Nacht auf der Straße.
Ich musste nur den Tag rum bringen. Der Zug sollte um 21 Uhr
abfahren. Piet kam um fünf aus dem Büro. Er hatte also vier Stunden Zeit mich
am Bahnhof zu finden. Keine gute Idee.
Ich tauschte das Ticket und nahm den nächsten Zug nach
Straßburg. Auf Straßburg würde er nicht kommen. Nichts verband uns mit dieser
kleinen elsässischen Stadt. Straßburg klang nach Straße und nach Burg. Die
Straße wird meine Burg.
Die nächsten vier Monate verbrachte ich auf der Straße und
im Zug. Nach vier Monaten war ich pleite.
Ich konnte an keinem Ort länger als eine Nacht bleiben. Ich
konnte keine Wohnung betreten. Jede Wohnung erinnerte mich an mein Gefängnis.
Da las ich in einer Zeitung im Zug ein Inserat:
„Fahrzeugüberführungen. Fahrer gesucht, der Wohnmobile an ihren Ausgangsort
zurückbringt“.
Mein Job! Das war mein Job!
Ich fuhr direkt zur angegebenen Adresse in meiner
Heimatstadt. Ich betrat das kleine Büro am Rande der Altstadt. Hinter dem
Empfang war es leer. Alles wirkte ein wenig heruntergekommen. Sehr
provisorisch. Als ob hier kein Parteienverkehr erwartet wurde.
Auf einem Sessel im Wartebereich saß Piet.
„Wusste doch, dass ich dich mit so einer Anzeige locken
kann.“ Er grinste.
Da nahm ich sein Messer aus der Jackentasche öffnete es, und
stach zu. Dreimal. Messerscharf, messerspitz, messgenau ins Herz.
©tine sprandel im Dezember 2012
Mehr von Tine Sprandel auf ihrer Homepage: www.asprandel.de
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