12.5.03

(1)

Mit den Schuhen in der Hand tastete sich Silvana die Treppe hinab. Unter der Küchentür sah sie Licht schimmern. Leise öffnete die junge Frau das schwere Portal und schlüpfte hinaus. Im nächsten Augenblick entriss ihr eine Sturmbö die Tür und warf sie krachend ins Schloss. Erschrocken wandte sie sich um, sah einen Schatten am Küchenfenster auftauchen. Da rannte sie los, immer noch die Schuhe in der Hand.
Der Schatten lehnte sich aus dem Fenster. „Silvana! Silvana, komm zurück. Was willst du denn da draußen in diesem Unwetter?“ Doriano warf sich eine Jacke über und eilte ihr nach.

Als Silvana die Ställe erreichte, schlug ein Blitz ein und verwandelte die alte Pinie am Feldrand in eine Fackel. Die Pferde schnaubten nervös; Miklos und Waltari trommelten gegen die Wände ihrer Boxen. Die schwarze Stute lag im Stroh und begrüßte sie mit einem leisen Wiehern. Silvana tastete nach einer Stalllaterne und zündete sie an. „Larissa, mein gutes Mädchen! Ist es schon so weit?“ Sie kniete sich hin und strich ihr über den mächtigen Leib.
Die Stute schnaubte und ächzte. Silvana begann auf sie einzureden: “Das wird ein tolles Pferdchen, du wirst sehen. Dein Baby wird das Feuer aller Blitze in sich tragen, die jetzt niedergehen. Du wirst sehen: Es wird schnell sein wie der Sturm, der um den Stall fegt, und mächtig wie das Donnergrollen.“
Ein leises Lachen erklang. Ihr Bruder hatte unbemerkt den Stall betreten. „Soll das eine Zauberformel für das neue Fohlen werden?“
„Ach, Doriano!“ Sie stand auf und hob die Laterne höher, um ihm den Weg durch die Stallgasse zu leuchten.
„Bei diesem Licht siehst du mit deinen ungekämmten roten Locken aus wie eine kleine Hexe.“ – „Oder wie eine Elfe“, setzte er versöhnlich hinzu, als sie die Augenbrauen hob. „Und warum auch nicht? Wie konntest du wissen, dass Larissa jetzt schon fohlt? Es ist viel zu früh!“
„Sie braucht Hilfe“, antwortete Silvana bedrückt.
„Sie und das Fohlen. Um den Hof zu retten, brauchen wir wirklich ein Pferd, das den Teufel im Leib hat. – Der Tierarzt muss kommen.“

Im Morgengrauen war es endlich soweit: Ein Fohlen versuchte zitternd, sich zum ersten Mal auf seine staksigen Beine zu erheben.
„Ein Albino“, rief Doriano perplex.
„Aber nein; siehst du nicht, dass es schwarze Augen hat?“ Silvana wandte sich mit einem vergnügten Zwinkern an die Stute: „Larissa, mit wem hast du uns da betrogen?“
„Dann ist es vielleicht wirklich das Zauberpferd, das wir brauchen“, freute sich Doriano.

Glücklich und erschöpft verließen die Geschwister den Stall. Draußen zerrte der Sturm an ihnen; unvermindert tobte das Gewitter. Lachend hoben sie ihre Gesichter dem Regen entgegen, sprangen übermütig durch die Pfützen.
Da schlug erneut der Blitz ein. Aus dem Dachstuhl ihres Hauses schoss eine Stichflamme.

© Annemarie Nikolaus