Carlas
Traum ging in Erfüllung. Zum ersten Mal saß sie in der Hamburger Staatsoper.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht „Carmen“ zu sehen. Schon als
junges Mädchen liebte sie die Oper, wollte einmal so schön und begehrt wie
diese Zigeunerin sein.
Zu
ihrem vierzigsten Geburtstag überraschte Alfred sie mit einer Eintrittskarte:
Hamburger Staatsoper, erster Balkon, und eine Übernachtung im Hotel Vier
Jahreszeiten. „Du musst aber alleine fahren“, sagte er. „Du weißt, der Hof.
Und – das Geld hat nur für eine Karte gereicht.“ Carla strich Alfred über das
vom Wetter gegerbte Gesicht, sah auf die ausgebeulte Arbeitshose und mit
Lehmklumpen beschmutzten groben Schuhe.
„Wir
können die Karte wieder zurückgeben. Ich muss nicht unbedingt ...“
„Nein.“
Er nahm sie ihn den Arm. „Du musst. Das Hotel war nicht teuer. Sie bieten an
den Wochenenden Sonderpreise – Du hast es verdient. Viele schöne Jahre haben
wir miteinander verbracht und du hast hart an meiner Seite gearbeitet. Ein
bisschen Wellness tut dir bestimmt gut.“
Carla
überlegte lange, doch von Tag zu Tag freute sie sich mehr auf die Reise. Sie
hatte in den Jahren ein wenig Geld zurückgelegt, nicht viel, aber für sie ein
kleines Vermögen. Kurz vor Weihnachten plünderte sie ihr Sparbuch, setzte sich
in Stade in den Zug und fuhr nach Hamburg.
Das
Zimmer war eine Sensation. Verschämt betrachtete sie ihren ärmlichen Koffer,
den der Page in den Raum gestellt hatte. Gekühlter Sekt stand bereit. Carla
entkorkte die Flasche, füllte ein Glas und ging zum Fenster. Von hier aus hatte
sie einen herrlichen Blick auf die Binnenalster und die geschmückten Häuserfassaden.
Ein Traum, wie in einem Märchen. Ob sich Carmen auch so gefühlt hat?
Beschwipst
zog sie sich ihren Mantel an und wanderte vom Weihnachtsmarkt am Jungfernstieg
zum Rathausmarkt, dann durch die Mönckebergstraße auf den
Gerhard-Hauptmann-Platz. Hier wurde viel Kunsthandwerk vertrieben. Zu ihrer
Freude erstand sie für Alfred geschnitzte Figuren aus dem Erzgebirge. Es würde
ihn freuen, denn seine Eltern stammten aus dieser Region. Auf der Flucht in den
Westen konnten sie ihren Weihnachtsschmuck nicht mitnehmen. Sie ließ die
Figuren kunstvoll einpacken und streckte sie in den Einkaufsbeutel
Langsam
schlenderte sie durch die Mönckebergstraße zurück. Fasziniert blieb sie vor
einem Frisiersalon stehen und starrte auf das ausgestellte Model. Sie ging
hinein, zeigte auf das Foto und ließ sich zu einem Stuhl führen. Die Friseurin
sah sie skeptisch an, strich ihr durch die vom Dutt gelösten, langen und mit
grauen Fäden durchzogenen Haare. Nach zwei Stunden waren sie dunkel gefärbt, in
üppige Locken gelegt und umschmeichelten Carlas Gesicht.
Anschließend
wurden ihre Augenbrauen gezupft, die Haut mit verschiedenen Cremes verwöhnt und
mit zarten Farben geschminkt. Ein Viertel ihres gesparten Geldes ging dabei
drauf, aber Carla war mit sich zufrieden und steuerte einen Modeladen an. Hier
erstand sie ein weinrotes Abendkleid aus Taft und Chiffon mit tiefem Dekolleté
sowie ein elegantes Stadtkostüm, das sie gleich anbehielt. Im Schuhladen wurde
sie sofort wie eine Dame bedient, und verließ den Laden mit ein Paar
hochhackigen, sündhaft teuren roten Pumps.
Vor
einem Dessous-Laden blieb sie stehen und starrte in die Auslagen. Preise gab es
keine. Unauffällig zählte sie ihr Restgeld und betrat den Laden.
Als
Carla in der Oper saß, fühlte sie die Seidenwäsche wie zärtliches Streicheln.
Das Satinkleid knisterte und raschelte darüber. Die halterlosen, mit Spitzen
verzierten Strümpfe waren ungewohnt und sie spürte die Kühle auf der entblößten
Haut zwischen Rand und Slip. Rote Lackschuhe zierten ihre Füße.
Das
Orchester nahm die Plätze ein. Die Musiker begannen ihre Instrumente zu
stimmen. Nach den ersten Tönen raste Carlas Herz vor Aufregung. Sofort fiel ihr
der Cellist auf. Ein Mann mittleren Alters, gepflegt mit graumelierten Haaren.
Wie vorsichtig er das Cello ergriff, seine Hand um den Hals des Instrumentes
legte und die Finger spielerisch über die Saiten gleiten ließ. Sie konnte ihre
Augen nicht abwenden, auch dann nicht, als die Ouvertüre einsetzte. Er führte
den Bogen leicht wie eine Feder. Seine Hand schien am Ende des Musikstücks in
der Luft zu schweben und damit die Töne in den Saal zu geleiten, die Wände
vibrieren zu lassen, wo sie schließlich in Carlas Magen ein Zittern erzeugten.
Sie sah nicht auf die Bühne, nicht auf Carmen, nahm nur seine Hände wahr, die
zärtlich und kraftvoll zugleich dem Instrument die herrlichsten Laute
entlockten. Das waren nicht Alfreds grobe, dunkle Hände, die Äpfel im alten
Land von den Bäumen pflückten oder ein Kälbchen aus dem Bauch einer Kuh zog.
* * *
José packte
das Cello aus dem Koffer und lehnte es vorsichtig an die Wand des Hotelzimmers.
Er betrachtete das edle Holz und verglich die vollendete Form des Instruments
mit der einer Frau, mit ihren weichen Rundungen von Hüfte, Taille und Busen.
Das Griffbrett mit seinen Saiten erschien ihm wie ihr Hals, schlank und
verletzbar. Seine Augen leuchteten. Frauen waren für ihn wie Blumen, wie der
Frühling, blühten zart auf, entfalteten sich schnell zur vollen Schönheit, um
genauso rasch wieder zu verblühen. Vorsichtig strich er über die Saiten des
Cellos und drückte wie zum Akkord fest zu.
Er
wandte sich ab, ersetzte die Theaterkleidung durch einen schwarzen
Kaschmirpullover, faltete sorgfältig das weiße Hemd zusammen und legte die
Fliege darauf. Er schaute kurz in den Spiegel und ging in die Hotelbar. Wie
immer, nach seinen Konzerten, bestellte er sich einen dunklen Burgunder. Die
Reifen waren die Besten. Die Bar war schwach beleuchtet, auf den Tischen flackerten
Kerzen und nur vereinzelt saßen Pärchen in den roten Plüschsesseln. Ein
Klavierspieler klimperte in einer Ecke „Rhapsody in Blue“, mehr recht als
schlecht, wie José fand. Jeder falsche Ton tat seinem Gehör weh. Er liebte den
Perfektionismus und hatte kein Verständnis für all jenes, das nicht perfekt
war.
Sie war
perfekt. Er schaute in den Spiegel über die Bar. Sie saß allein in einem der
roten Plüschsessel. Bescheiden, dezent, in voller Blüte – kurz vor dem
Verfalldatum. José trank einen Schluck des Burgunders und schmeckte die Reife
der Frucht. Das war es, was er liebte. Er hatte sie in der Oper gesehen und
bemerkt, dass sie nicht ihre Augen von ihm lassen konnte, ihn ständig
beobachtete. Wie ein rotes Tuch wippte ihr Fuß mit den auffälligen Schuhen auf
und ab und er fühlte, dass etwas zwischen ihnen war, etwas ganz Besonderes. Sie
war wie edles Holz, aus dem man gute Instrumente schnitzen kann.
José
ließ sich Zeit, beobachtete, genoss und trank seinen Burgunder aus. Danach
bestellte er zwei neue Gläser des edlen Getränks, winkte dem Ober, um sie an
den Tisch der Frau bringen zu lassen und ging zu ihr hinüber.
„Gnädige
Frau“, verbeugte er sich, „Sie sollten diesen Wein probieren. Der ist Ihrer
würdig. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Carla
war irritiert, überrascht, überrumpelt, reichte ihm die Hand, die er nach alter
Manier küsste. Sah er nicht die Risse der harten Arbeit darin? Sie atmete tief
durch, spürte die Seide der zarten Wäsche auf ihrer Haut, die Kühle zwischen
Spitzenrand der Strümpfe und Slip. Sie schlug die Beine übereinander, um der
Kälte zu entgehen. Der Schlitz des Abendkleides gab mehr frei, als sie
beabsichtigte. Sie versuchte, es etwas hinunterzuziehen, doch der glatte Stoff
ließ es nicht zu.
„Lassen
Sie das“, sagte José mit amüsiertem Blick, nahm den Weinpokal in die Hand und
prostete ihr zu. „Gönnen Sie einem alten Mann diesen bezaubernden Anblick.“ Mit
seinen Fingern strich er leicht über den Ansatz der Spitzenstrümpfe. Auf Carlas
Haut bildete sich eine Gänsehaut. „Trinken Sie.“ Er reichte ihr das Glas. Carla
schloss die Augen, trank es leer, hörte das Klavierspiel des Musikers und
fühlte sich wie Carmen in Sevilla.
Als sie die Augen öffnete, sah sie in das Gesicht von
José, das nah an ihrem war. Sie hörte nicht mehr den Klavierspieler, dafür die
Ouvertüre aus „Carmen“. Entblößt, nur in ihrer Spitzenwäsche und den roten
Schuhen lag sie in ihrem Zimmer auf dem ausladenden, luxuriösen Bett, das teure
Abendkleid achtlos zusammengeknüllt daneben. Es störte sie nicht – nur Jóses
Hände waren wichtig. Diese sehnigen, sanften Hände, die den Rändern der Spitzen
ihre Wäsche entlang fuhren, Konturen malten, sacht ihre Haut berührten. Oh wie
sehr hatte sie sich in der Oper gewünscht, von diesen Händen gestreichelt zu
werden. Alfred hatte Recht: nur einmal im Leben Carmen spielen, nur einmal im
Leben so spüren wie sie. Alfred! Er wusste, was sie sich wünschte und was sie
fühlte –. Morgen würde sie ihm in Stade bei der Fütterung der Kühe helfen, sich
die Holzschuhe anziehen und das Kopftuch umbinden, sein vom Wetter gegerbtes
Gesichts streicheln und seine tiefe Liebe fühlen – Alfred! Er würde sich zu
Weihnachten über die Figuren aus dem Erzgebirge freuen. Carla schloss
genussvoll die Augen, als sie spürte, dass sich Josés Hände um ihren Hals legten,
jede einzelne Sehne abtasteten, mit ihnen wie auf einem Cello zu spielen
schienen, sie liebkosten – bis sie plötzlich kraftvoll zudrückten.
José
stand traurig, aber tief befriedigt auf – wie schon so oft. Die Ouvertüre war
beendet. Sie lag dort, formvollendet, in der Blüte ihres Daseins, erlöst von
der Schmach des Alterns und des Vertrocknens. Wunderschön anzusehen, in edler
Spitze gekleidet – noch rechtzeitig vor dem Verfall. Er streifte ihr die roten
Schuhe ab und steckte sie ein. Dann ging er auf sein Zimmer, nahm sein Cello,
strich über die Rundungen des Instruments, über das edle Holz, griff den Bogen
und spielte aus „Carmen“. Er schloss die Augen: Morgen gab er ein Konzert in
Moskau und er würde perfekt sein – wie immer.
Copyright Monique Lhoir
Mehr von Monique Lhoir auf ihrer Homepage.
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