Während Henry Miller aus dem Taxi stieg, rückte er
seine Seidenkrawatte zurecht, klopfte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem
grauen Jackett und schaute kurz zum Himmel. Tiefe, dunkle Regenwolken zogen
vorbei. London bereitete sich auf Weihnachten vor. Energisch umfasste er den
Griff des Regenschirmes, ein unverzichtbares Requisit in diesen Tagen, und
hastete zur Haustür des Penthouses. Mit einem Code öffnete er die Tür,
durchlief den mit Marmor gepflasterten Flur und betrat den Fahrstuhl. Im zwölften
Stock angekommen betätigte er eine winzige Fernsteuerung, die er am
Schlüsselbund trug. Ein leises Surren ertönte und ließ Henry seine Wohnung
betreten; automatisch ging die Beleuchtung in sämtlichen Räumen an. Im
Eingangsbereich stellte er den Aktenkoffer ab, zog seine Straßenschuhe aus und
schlüpfte in karierte Filzpantoffeln. Wie jeden Abend blickte er aus dem großen
Panoramafenster kurz auf die Themse, drückte den unauffälligen Schalter an der
Wand und wartete, bis sich sämtliche Jalousien geschlossen hatten und ihn damit
von der feindlichen Außenwelt abschotteten. Er war froh, dem ständigen „Merry
Christmas“, der lauten Musik, dem bunten Geglitzer und den Menschen mit den
albernen roten Nikolausmützen entkommen zu sein.
Erleichtert
atmete Henry durch, ersetzte das Jackett durch einen seidenen Hausmantel, ging
an die Bar und schenkte sich seinen wohlverdienten Whisky ein. Er setzte sich
auf das schwarze Ledersofa, sorgfältig darauf bedacht, keine Falten in die
drapierten Kissen zu machen. Alles hatte in Henrys Leben und insbesondere in
seiner Wohnung eine Ordnung, eine penible Ordnung, in der nichts, aber auch gar
nichts schief oder schräg sein durfte.
Er
arbeitete seit über zehn Jahren hart von früh bis spät als Broker an der Londoner
Börse, setzte täglich Milliarden um. Auf ihn konnte man sich verlassen, er war
gefragt, wenn es um die ganz großen Summen ging. Und das funktionierte
ausschließlich mit eiserner Disziplin und klaren Strukturen. Davon war Henry
hundertprozentig überzeugt. Nur so konnte man der feindlichen Welt trotzen und
ihr ein Schnippchen schlagen. Und das hatte er gemacht. Unbemerkt hatte er über
die Jahre Gelder abgezweigt, sie gut und sicher im Ausland angelegt. Ein paar
Millionen, nur ein Bruchteil davon, was seine Bank und die Währungsspekulanten durch
ihn verdient hatten.
Henry
nippte am Whisky und schaute sich zufrieden um. Die Einrichtung wirkte dezent
und übersichtlich, alles aus Glas oder schwarzem Lack, symmetrisch angeordnet,
ohne störende Farbkleckse. Klar, das Design hatte ihm viel Geld gekostet, doch
jedes Möbel zeugte von ausgesuchter Eleganz und stand dekorativ an seinem
Platz, nicht zu viel, damit nicht der Eindruck von Unordnung entstand. Nirgends
entdeckte er ein Staubkörnchen, alles war blitzblank poliert. Täglich, wenn er
an der Börse arbeitete, kam ein ihm nicht bekannter unsichtbarer Geist, den er
sich anonym über eine Agentur besorgt hatte. Henry war stets bemüht, keinen
Schmutz zu machen oder die geringste Kleinigkeit liegen zu lassen. Er empfand
es als gefährlich, wenn dadurch irgendjemand Fremdes auf seine Person schließen
könnte. Er wollte nichts verursachen, was menschlich anmutete, denn damit würde
er verletzbar werden, eine Angriffsfläche für die Außenwelt abgeben. Nein, er
wollte in dieser Stadt nicht auffallen, keine Kontakte, keine Freundschaften,
keine Frauen, über die man auf ihn Rückschlüsse ziehen könnte. Er war einer
dieser uniformierten, immer gleich aussehenden Broker dieser Stadt, mit stark
gegelten modischen Einheitsfrisuren und regungslosen Gesichtern. Inzwischen
dachte und handelte er bereits wie sie.
Henry
öffnete den Aktenkoffer und nahm das Flugticket zur Hand. Alles war bis aufs
Kleinste vorbereitet. Heute war sein letzter Tag in der Bank der City of London
gewesen. Er hatte gekündigt und gesagt, er hätte ein umwerfendes Angebot eines
New Yorkers Investors nicht ausschlagen können. Die Kollegen hatten ihm
staunend geglaubt, denn sie wussten, dass er einer der Erfolgreichsten in dem
Geschäft war.
Henry
lehnte sich genüsslich zurück. Sein Blick schweifte über die Lackkommode –
plötzlich erstarrte er und riss die Augen auf. „Was ist denn das?“ Langsam
stellte er den Whisky auf den Glastisch, um ja keinen Tropfen zu vergießen.
Vorsichtig schlich er zur Kommode, die eine edle afrikanische Skulptur zierte. Doch
darunter standen – er sah näher hin – ein paar Lackpumps. Schwarz mit
zierlichen Riemchen! Mit der Fußspitze schob er die Fremdkörper beiseite. Ekel
erfasste ihn, als er anschließend einen davon aufhob und ihn gegen das Licht
hielt. Angewidert verzog er seinen Mund. Offensichtlich handelte es sich um
einen Frauenschuh, der extrem hohe Absatz ließ nichts anderes zu.
„Wer
war in meiner Wohnung“, flüsterte er entsetzt und ließ den Lackschuh fallen. „Eine
Verräterin. Etwa eine Kollegin aus der Bank?“ Ohne die Kommode aus den Augen zu
lassen tastete er sich rückwärts zum Sofa und stieß dabei mit dem Knie an den
Glastisch. Wie gelähmt setzte er sich und stierte die Pumps an. Wer besaß den
Code zu seiner Wohnung? Wer war ihm auf die Schliche gekommen? Henry spürte,
wie sein Herz zu rasen begann und anschließend unrhythmisch schlug. Angst
überkam ihn, im nächsten Moment einen Herzinfarkt zu erleiden und auf diese Art
und Weise frühzeitig zu Tode zu kommen. Der unsichtbare Hausgeist, der zum
Putzen kam, würde ihn – ein schrecklicher Gedanke – am nächsten Morgen in
seinem Hausmantel tot auffinden. Das war ein gut ausgeklügelter Mordversuch.
Jeder in der Bank wusste um seine Pingeligkeit.
Im
Angesicht seines nahen Endes schlug er verzweifelt auf die wohlgeordneten
Kissen ein und verursachte so nicht nur Falten, sondern tiefe, knautschige
Dellen in den Polstern. Voller Panik schaute er auf seine verwerfliche Tat,
schnellte hoch, schnappte sich das Glas, hastete an die Bar und schenkte sich mit
zittrigen Händen einen weiteren Whisky ein. Einige Topfen liefen daneben und
hinterließen auf dem polierten Spiegel hässliche Pfützen. Mit Tränen in den
Augen wischte er sie mit den Fingern weg, worauf sich unansehnliche Schlieren
bildeten. Wer war sein Feind? Wer war hinter ihm her?
Nun
war es mit seiner Beherrschung vorbei. Ein tierischer Schrei löste sich aus
seiner Kehle, der in einem Hustenanfall endete. Mit geballter Faust schlug er
sich auf die Brust. Das gefüllte Glas entglitt seinen Händen und fiel krachend
auf den glatten Marmorboden, zerschellte und verteilte in der gesamten Wohnung Tausende
von Splittern.
Wie
hypnotisiert starrte er auf die sich ausbreitende braune Flüssigkeit, in der
die Scherben schwammen. Sein gut organisiertes Leben war angesichts dieses Schmutzes
zerstört. Mit letzter Kraft riss er den Seidenmantel auf, um sich Luft zu
verschaffen. Die Knöpfe sprangen ab, einer kullerte mit einem hämischen
Geräusch unter das Ledersofa.
„Das
auch noch“, fluchte er und robbte los. Dabei verlor er seine karierten
Pantoffeln, die nun in Abständen unsymmetrisch auf den Steinen liegen blieben.
Einer davon besaß sogar die Unverschämtheit, verkehrt herum auf dem Filz zu
landen. Ein Affront sondergleichen.
Das
Kinn auf die Knie gestützt blieb Henry erschöpft vor dem Sofa sitzen und besah
sich die Bescherung, die sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte.
Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, tropften auf den gebohnerten Marmor und
vermischten sich mit dem Whisky.
Den
geretteten Knopf in seiner Hand betrachtend murmelte er: „Ich brauch unbedingt
einen klaren Kopf. Ich bin völlig überarbeitet. Ich habe Raubbau mit meinem
Körper betrieben, in den letzten zehn Jahren nie eine Pause gemacht, nie an mich
gedacht. Nur an Profit. Kaufen – verkaufen – kaufen.“ Henry griff sich an
den Kopf. „Ich muss schlafen, dringend schlafen. Das ist ein Wink. Ein Wink in
Form schwarzer Pumps von einem unsichtbaren Teufel.“ Henry bekam eine Gänsehaut
und begann zu frieren. Jetzt war die Zeit gekommen, wo sie ihn bestrafen
wollten. Eine Strafe, die schlimmer nicht sein konnte, eine Strafe, die sein
ganzes Leben verändern würde. Ein Dasein in einem schmutzigen Londoner
Gefängnis.
Er rappelte sich schwerfällig hoch, zog langsam Hemd und Hose aus und
ließ alles auf dem Boden liegen. Genauso entledigte er sich seiner Socken, roch
kurz daran und warf sie völlig entkräftet, angewidert von dem Gestank, durch
den Raum. Er schaffte es nicht mehr, unter die Dusche zu kommen. Voller
Verachtung über seinen eigenen, menschlichen Geruch und angesichts der
Tatsache, dass seine Feinde nicht mehr weit waren, verkroch er sich unter die
Bettdecke, zog sie bis zum Hals hinauf und schlief bald ein.Fortsetzung folgt.
Copyright Monique Lhoir
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