15.12.12

Broker Teil 1 von Monique Lhoir



Während Henry Miller aus dem Taxi stieg, rückte er seine Seidenkrawatte zurecht, klopfte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem grauen Jackett und schaute kurz zum Himmel. Tiefe, dunkle Regenwolken zogen vorbei. London bereitete sich auf Weihnachten vor. Energisch umfasste er den Griff des Regenschirmes, ein unverzichtbares Requisit in diesen Tagen, und hastete zur Haustür des Penthouses. Mit einem Code öffnete er die Tür, durchlief den mit Marmor gepflasterten Flur und betrat den Fahrstuhl. Im zwölften Stock angekommen betätigte er eine winzige Fernsteuerung, die er am Schlüsselbund trug. Ein leises Surren ertönte und ließ Henry seine Wohnung betreten; automatisch ging die Beleuchtung in sämtlichen Räumen an. Im Eingangsbereich stellte er den Aktenkoffer ab, zog seine Straßenschuhe aus und schlüpfte in karierte Filzpantoffeln. Wie jeden Abend blickte er aus dem großen Panoramafenster kurz auf die Themse, drückte den unauffälligen Schalter an der Wand und wartete, bis sich sämtliche Jalousien geschlossen hatten und ihn damit von der feindlichen Außenwelt abschotteten. Er war froh, dem ständigen „Merry Christmas“, der lauten Musik, dem bunten Geglitzer und den Menschen mit den albernen roten Nikolausmützen entkommen zu sein.
Erleichtert atmete Henry durch, ersetzte das Jackett durch einen seidenen Hausmantel, ging an die Bar und schenkte sich seinen wohlverdienten Whisky ein. Er setzte sich auf das schwarze Ledersofa, sorgfältig darauf bedacht, keine Falten in die drapierten Kissen zu machen. Alles hatte in Henrys Leben und insbesondere in seiner Wohnung eine Ordnung, eine penible Ordnung, in der nichts, aber auch gar nichts schief oder schräg sein durfte.
Er arbeitete seit über zehn Jahren hart von früh bis spät als Broker an der Londoner Börse, setzte täglich Milliarden um. Auf ihn konnte man sich verlassen, er war gefragt, wenn es um die ganz großen Summen ging. Und das funktionierte ausschließlich mit eiserner Disziplin und klaren Strukturen. Davon war Henry hundertprozentig überzeugt. Nur so konnte man der feindlichen Welt trotzen und ihr ein Schnippchen schlagen. Und das hatte er gemacht. Unbemerkt hatte er über die Jahre Gelder abgezweigt, sie gut und sicher im Ausland angelegt. Ein paar Millionen, nur ein Bruchteil davon, was seine Bank und die Währungsspekulanten durch ihn verdient hatten.
Henry nippte am Whisky und schaute sich zufrieden um. Die Einrichtung wirkte dezent und übersichtlich, alles aus Glas oder schwarzem Lack, symmetrisch angeordnet, ohne störende Farbkleckse. Klar, das Design hatte ihm viel Geld gekostet, doch jedes Möbel zeugte von ausgesuchter Eleganz und stand dekorativ an seinem Platz, nicht zu viel, damit nicht der Eindruck von Unordnung entstand. Nirgends entdeckte er ein Staubkörnchen, alles war blitzblank poliert. Täglich, wenn er an der Börse arbeitete, kam ein ihm nicht bekannter unsichtbarer Geist, den er sich anonym über eine Agentur besorgt hatte. Henry war stets bemüht, keinen Schmutz zu machen oder die geringste Kleinigkeit liegen zu lassen. Er empfand es als gefährlich, wenn dadurch irgendjemand Fremdes auf seine Person schließen könnte. Er wollte nichts verursachen, was menschlich anmutete, denn damit würde er verletzbar werden, eine Angriffsfläche für die Außenwelt abgeben. Nein, er wollte in dieser Stadt nicht auffallen, keine Kontakte, keine Freundschaften, keine Frauen, über die man auf ihn Rückschlüsse ziehen könnte. Er war einer dieser uniformierten, immer gleich aussehenden Broker dieser Stadt, mit stark gegelten modischen Einheitsfrisuren und regungslosen Gesichtern. Inzwischen dachte und handelte er bereits wie sie.
Henry öffnete den Aktenkoffer und nahm das Flugticket zur Hand. Alles war bis aufs Kleinste vorbereitet. Heute war sein letzter Tag in der Bank der City of London gewesen. Er hatte gekündigt und gesagt, er hätte ein umwerfendes Angebot eines New Yorkers Investors nicht ausschlagen können. Die Kollegen hatten ihm staunend geglaubt, denn sie wussten, dass er einer der Erfolgreichsten in dem Geschäft war.

Henry lehnte sich genüsslich zurück. Sein Blick schweifte über die Lackkommode – plötzlich erstarrte er und riss die Augen auf. „Was ist denn das?“ Langsam stellte er den Whisky auf den Glastisch, um ja keinen Tropfen zu vergießen. Vorsichtig schlich er zur Kommode, die eine edle afrikanische Skulptur zierte. Doch darunter standen – er sah näher hin – ein paar Lackpumps. Schwarz mit zierlichen Riemchen! Mit der Fußspitze schob er die Fremdkörper beiseite. Ekel erfasste ihn, als er anschließend einen davon aufhob und ihn gegen das Licht hielt. Angewidert verzog er seinen Mund. Offensichtlich handelte es sich um einen Frauenschuh, der extrem hohe Absatz ließ nichts anderes zu.
„Wer war in meiner Wohnung“, flüsterte er entsetzt und ließ den Lackschuh fallen. „Eine Verräterin. Etwa eine Kollegin aus der Bank?“ Ohne die Kommode aus den Augen zu lassen tastete er sich rückwärts zum Sofa und stieß dabei mit dem Knie an den Glastisch. Wie gelähmt setzte er sich und stierte die Pumps an. Wer besaß den Code zu seiner Wohnung? Wer war ihm auf die Schliche gekommen? Henry spürte, wie sein Herz zu rasen begann und anschließend unrhythmisch schlug. Angst überkam ihn, im nächsten Moment einen Herzinfarkt zu erleiden und auf diese Art und Weise frühzeitig zu Tode zu kommen. Der unsichtbare Hausgeist, der zum Putzen kam, würde ihn – ein schrecklicher Gedanke – am nächsten Morgen in seinem Hausmantel tot auffinden. Das war ein gut ausgeklügelter Mordversuch. Jeder in der Bank wusste um seine Pingeligkeit.
Im Angesicht seines nahen Endes schlug er verzweifelt auf die wohlgeordneten Kissen ein und verursachte so nicht nur Falten, sondern tiefe, knautschige Dellen in den Polstern. Voller Panik schaute er auf seine verwerfliche Tat, schnellte hoch, schnappte sich das Glas, hastete an die Bar und schenkte sich mit zittrigen Händen einen weiteren Whisky ein. Einige Topfen liefen daneben und hinterließen auf dem polierten Spiegel hässliche Pfützen. Mit Tränen in den Augen wischte er sie mit den Fingern weg, worauf sich unansehnliche Schlieren bildeten. Wer war sein Feind? Wer war hinter ihm her?
Nun war es mit seiner Beherrschung vorbei. Ein tierischer Schrei löste sich aus seiner Kehle, der in einem Hustenanfall endete. Mit geballter Faust schlug er sich auf die Brust. Das gefüllte Glas entglitt seinen Händen und fiel krachend auf den glatten Marmorboden, zerschellte und verteilte in der gesamten Wohnung Tausende von Splittern.
Wie hypnotisiert starrte er auf die sich ausbreitende braune Flüssigkeit, in der die Scherben schwammen. Sein gut organisiertes Leben war angesichts dieses Schmutzes zerstört. Mit letzter Kraft riss er den Seidenmantel auf, um sich Luft zu verschaffen. Die Knöpfe sprangen ab, einer kullerte mit einem hämischen Geräusch unter das Ledersofa.
„Das auch noch“, fluchte er und robbte los. Dabei verlor er seine karierten Pantoffeln, die nun in Abständen unsymmetrisch auf den Steinen liegen blieben. Einer davon besaß sogar die Unverschämtheit, verkehrt herum auf dem Filz zu landen. Ein Affront sondergleichen.
Das Kinn auf die Knie gestützt blieb Henry erschöpft vor dem Sofa sitzen und besah sich die Bescherung, die sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, tropften auf den gebohnerten Marmor und vermischten sich mit dem Whisky.
Den geretteten Knopf in seiner Hand betrachtend murmelte er: „Ich brauch unbedingt einen klaren Kopf. Ich bin völlig überarbeitet. Ich habe Raubbau mit meinem Körper betrieben, in den letzten zehn Jahren nie eine Pause gemacht, nie an mich gedacht. Nur an Profit. Kaufen – verkaufen – kaufen.“ Henry griff sich an den Kopf. „Ich muss schlafen, dringend schlafen. Das ist ein Wink. Ein Wink in Form schwarzer Pumps von einem unsichtbaren Teufel.“ Henry bekam eine Gänsehaut und begann zu frieren. Jetzt war die Zeit gekommen, wo sie ihn bestrafen wollten. Eine Strafe, die schlimmer nicht sein konnte, eine Strafe, die sein ganzes Leben verändern würde. Ein Dasein in einem schmutzigen Londoner Gefängnis.
Er rappelte sich schwerfällig hoch, zog langsam Hemd und Hose aus und ließ alles auf dem Boden liegen. Genauso entledigte er sich seiner Socken, roch kurz daran und warf sie völlig entkräftet, angewidert von dem Gestank, durch den Raum. Er schaffte es nicht mehr, unter die Dusche zu kommen. Voller Verachtung über seinen eigenen, menschlichen Geruch und angesichts der Tatsache, dass seine Feinde nicht mehr weit waren, verkroch er sich unter die Bettdecke, zog sie bis zum Hals hinauf und schlief bald ein.

Fortsetzung folgt.

 Copyright Monique Lhoir

Mehr von Monique Lhoir auf ihrer Homepage.




 

Keine Kommentare: