Square Dance war eigentlich ganz einfach, wenn
man erst mal wusste, was sich hinter so merkwürdigen Calls wie „pass the
ocean“ oder „ladies in, men sashay“ verbarg. Hinnerk nickte immer
wieder anerkennend. Madeline genoss die Stimmung in der Gruppe, die Musik – und
den betörenden Klang von Chris’ Singstimme. Jedes Mal, wenn ihr Blick auf ihn
fiel, hatte sie das Gefühl, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.
Wenn sie Großpapa sagte, nach der Pleite mit
Robert hätte sie einfach die nächste Gelegenheit ergriffen, die sich ihr
angeboten hatte? Das müsste ihn eigentlich freuen. Tanzen war Tanzen ... Nein,
war es nicht. Eben deswegen würde sie beim Square Dance bleiben. Bei dem
Gedanken an Chris wurde ihre Kehle eng.
Madeline war so ins Grübeln versunken, dass
sie Fehler zu machen begann. Chris’ kritisch gerunzelte Stirn hieß sie, sich
besser zusammenzunehmen. Er sollte nicht denken, sie mache das wieder
absichtlich.
Dann war das Training zu Ende und die Gruppe
versammelte sich wie gewohnt an der Bar. Chris stand mit den anderen zusammen
und diskutierte; hatte er entschieden, dass sie keine Nachhilfe bräuchte?
Madeline nippte unschlüssig an ihrem Prosecco,
von Hinnerk in Beschlag genommen. Ihm war bald anzusehen, dass er sie am
liebsten gefragt hätte, was mit ihr los war. Aber zu ihrer Erleichterung tat er
es dann doch nicht.
Dann wollten Carola und Tanja gehen und
Norbert fragte Madeline, ob er sie mitnehmen solle.
Chris bemerkte Madelines ratlosen Blick und
kam zu ihnen. Offensichtlich hatte er die ganze Zeit auf sie geachtet, obwohl
er in die Gespräche vertieft erschienen war. „Es ist spät; hast du trotzdem
noch Zeit zu bleiben?“
„Ja natürlich.“ Als ob sie nicht die ganze
Zeit darauf gewartet hätte.
Hinnerks Blick wurde noch wachsamer. „Üben?
Ich kann auch noch bleiben.“
Chris’ Gesicht blieb ohne Ausdruck, als er
antwortete. „Muss nicht sein.“ Warum schickte er Hinnerk nicht ausdrücklich
fort?
Aber Hinnerk schien nichts verdächtig zu
finden und als Chris mit Madeline in den Saal zurückging, bleib er nur kurz in
der Tür stehen und verabschiedete sich, noch bevor sie anfingen zu tanzen.
Madeline war verspannt vor Aufregung und als
Chris sie an der Hand nahm, hatte sie das Gefühl, sie würde von einer
verräterischen Röte übergossen. Um zu verbergen, was in ihr vorging,
verkrampfte sie sich noch mehr. Aber es nützte nichts.
Chris fasste sie an beiden Schultern und
studierte ihr Gesicht. „Locker, Madeline.“ Er lächelte sparsam; sein Blick
jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Sie lehnte sich an und er sog heftig die Luft
ein. Er roch nach Pfefferminze und einem herben Aftershave, obwohl es Stunden
her sein musste, dass er sich rasiert hatte. Der dunkle Schatten auf seinen
Wangen gab ihm einen verwegenen Ausdruck.
Ihr fiel keine Entgegnung ein, die irgendwie
witzig oder intelligent war. Aber sie begann sich zu entspannen. Dabei hatte
sie die ganze Zeit das Gefühl, er müsse sich anstrengen, cool zu bleiben. Da
war nichts mehr von der Leichtigkeit der letzten Tage zu spüren. Irgendwann gab
sie es auf, darüber nachzudenken und tanzte einfach nur.
„Ich fahre dich nach Hause“, sagte er, als an
der Bar die Gläser von Margas Aufräumerei klirrten. Offensichtlich war dies das
Zeichen, Schluss zu machen. Wartete Marga abends etwa, bis der letzte gegangen
war? Chris hatte doch sicher einen Schlüssel für die Etage.
Dann gingen sie alle drei gemeinsam, aber
Marga lehnte Chris’ Angebot ab, sie ebenfalls nach Hause zu bringen. „Ich
brauche frische Luft und Bewegung, bevor ich schlafen kann.“
Es hatte wieder angefangen zu schneien und der
Schnee hob sich hell gegen den unbeleuchteten Hof ab. „Der Hausmeister ist
wahrscheinlich wieder in der Kneipe“, murrte Marga, während sie ihnen folgte
und mit leicht von sich gestreckten Armen in ihre Fußstapfen trat.
Chris nahm Madeline an der Hand, um sie sicher
über die rutschige Fläche zu führen.
An der Straße blieb Marga stehen. „Wir sind
schneller zu Hause, wenn wir nicht mit dir fahren, Chris. Bis du dein Auto
ausgegraben hast und auf den glatten Straßen ...“ Sie sah Madeline auffordernd
an, als sie jedoch nicht reagierte, verabschiedete Marga sich und stiefelte zum
U-Bahnhof.
Chris’ Auto stand nur ein paar Schritte
entfernt, aber als Madeline einstieg, hatte sie schon eisige Füße und Hände. Es
war bestimmt fünfzehn Grad unter null. Sie klemmte sich die Hände unter die
Achseln, während Chris rundherum die Scheiben frei räumte. Bevor er losfuhr,
griff er auf dem Rücksitz nach einer Thermodecke und hüllte Madeline darin ein.
„Du übertreibst!“
Er grinste. „Gelernt ist gelernt.“
Sie besah sich die Decke genauer. „Ist die
etwa von der Feuerwehr?“
„Es ist eine, wie wir sie bei der Feuerwehr
auch benutzen.“ Chris drückte auf den Startknopf und nach einem Moment der
Besinnung sprang der Benzinmotor an.
Fahrzeuge des Winterdienstes waren nur
vereinzelt unterwegs und Chris zog die Hauptstraßen dem Stadtring vor. Nachdem
die Batterie warm geworden war, rollten sie lautlos durch die verschneite
Stadt. Es war glatt und immer wieder bremste der Toyota von alleine ab, weil
die Räder zu rutschen begannen.
Marga hatte recht gehabt; sie war gewiss mit
der U-Bahn schneller zu Hause. Aber Madeline musste für den Heimweg mehrmals
umsteigen und sie hätte sich an den Bushaltestellen die Füße abgefroren,
Chris war schweigsam. Ab und zu warf er ihr
aus den Augenwinkeln einen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. Sie
dirigierte ihn und das war das einzige, was sie sagte.
Die Spannung zwischen ihnen wuchs.
„Danke“, murmelte sie, als er vor ihrer Tür
hielt.
„Es war mir ein Vergnügen.“
Unwillkürlich kam sie ihm entgegen, als er
sich ihr zuwandte.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die
Wange.
Madeline stockte der Atem; dann wandte sie den
Kopf und ihre Lippen trafen sich. Sein Mund war warm und weich und öffnete sich
unter ihrer Berührung. Sie vertiefte den Kuss und er antwortete mit seiner
Zunge. Doch dann wich er zurück.
„Madeline.“ Er räusperte sich. „Das dürfen wir
nicht tun.“
Sie schnaubte empört. „Ich bin fast achtzehn!“
„Fast!“ Er schloss einen Moment die Augen;
dann streckte er die Hand aus und zog sie an sich.
Um ihm noch näher zu sein, schlang sie die
Arme um seinen Hals. „Küss mich, Chris.“ Sie rieb ihr Gesicht an seiner Wange;
er stöhnte auf. „Küss mich, Chris.“ Mit zwei Fingern strich sie ganz langsam
über seine Lippen.
Er gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte
wie das Knurren eines Hundes aus tiefer Kehle. „Du machst mich wahnsinnig,
Madeline.“ Er zog sie auf seinen Schoß. Und dann küsste er sie; intensiv,
fordernd, bis sie keine Luft mehr bekam. Ihr Inneres entzündete sich.
Mit geschlossenen Augen lag sie in seinem Arm
und spürte den heißen Wellen nach, die durch ihren Körper rollten. Was für ein
schwindelerregendes Gefühl. Dass ein einfacher Kuss eine solche Wirkung haben
konnte ... aber es war kein einfacher Kuss gewesen. Chris war verrückt nach
ihr; da gab es keinen Irrtum.
„Chris ...“
Er legte eine Hand auf ihren Mund, streichelte
dabei mit dem Daumen ihre Wange. „Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst.“
„Hier ist alles dunkel; niemand sieht uns. Und
meine Eltern sind im Friedrichstadtpalast.“ Sie rutschte zurück auf ihren
Platz. „Möchtest du meine Schmetterlingssammlung sehen?“
„Was?“ Er sah sie an, als habe sie den
Verstand verloren.
„Das war ein running gag. Niemals würde
ich die schönen Schmetterlinge aufspießen.“
Die Lachfältchen um seine Augen vertieften
sich und waren jetzt selbst im Halbdunkel der Straße sichtbar. „Schlaf gut,
Madeline.“
„Ich werde von dir träumen, Chris.“
Sein Blick war pure, unverhüllte Zärtlichkeit.
Beschwingt stieg sie aus und stiefelte über die Einfahrt zur Haustür.
Als sie sich umdrehte, war er lautlos
davongefahren. Madeline lächelte. In knapp zwei Monaten wurde sie achtzehn.
Sie holte sich ein Glas Milch und warf dann
ihren Computer an. „Gute Nacht“, hatte Chris ihr von seinem Handy aus
geschrieben. Ganz bestimmt war er verliebt in sie.
(...)