30.11.04

(13)

Federico brauchte seine Leute nicht zur Eile anzutreiben, denn die Sonne verschwand schon hinter dem Gipfel des Pergola, als sie aufbrachen. Mauro ritt als Letzter und grummelte unausgesetzt vor sich hin. Federico hörte es, aber er mochte es ihm nicht verdenken. Wer weiß, ob es richtig war, das Risiko dieses Nachtritts einzugehen.

Bald darauf zündeten Mauro und die Knechte ihre Sturmlaternen an und hielten die Zügel mit einer Hand. Es war Neumond; ein böiger Wind jagte die Wolken hin und her. Mauro ritt nach vorne an die Seite Federicos, um ihm zu leuchten. Der nickte ihm zu und trieb sein Pferd an. Als sie schließlich den Fuß des Hangs erreichten, ließen sie den Pferden die Zügel länger, damit sie selbständig den Weg durch den Wald fanden.

Der Pfad schlängelte sich an einer Klamm entlang. Mauro begann wieder zu grummeln.

Federico lachte auf. "Mein treuer Kutscher, fürchtest du dich?"

"Verzeiht, Herr."

"Im Krieg war es gefährlicher; hast du das schon vergessen?"

Mauro blickte auf Federicos Arm und zog den Kopf ein.

Je höher sie den Berg hinaufkamen, desto dunstiger wurde es. "Wo kommt auf einmal dieser Nebel her"?, ließ sich einer der Knechte vernehmen.

"Das sind Wolken, du Dummkopf", entgegnete Mauro. Sie brauchten nicht zu merken, dass er selber besorgt war.

"Wolken!", kam die verblüffte Antwort des anderen.

Mauro schaute zurück; er sah kaum mehr als Schemen, über denen das Licht der Laternen zu schweben schien. Da war ihm, als vernehme er zwischen dem Rascheln des Laubes ein leises Kichern. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Das Pferd drängte dicht an Federicos und schnaubte.

Plötzlich fegte eine Bö über sie hinweg; dann erloschen ihre Laternen.

"Wie kann das sein", entfuhr es Federico. "Zündet die Lampen wieder an. Macht schnell, Männer!"

Sie bemühten sich. Doch der Nebel hatte die Finger klamm und steif werden lassen. Mauro entglitt der Zundel. Aussichtslos, ihn in der Dunkelheit zu suchen.

Währenddessen wurde der Wind zum Sturm. Geäst brach und stürzte auf sie herab; die Männer nahmen die Zügel wieder auf. Einem der Knechte schlug ein Ast die Sturmlaterne aus der Hand. Vor Schreck trat er seinem Pferd in die Flanken, sodass es mit ihm davonraste.

"Wir können hier nicht bleiben. Reitet weiter!", befahl Federico. "Immer bergauf. Dann sind wir bald aus diesem Wald heraus."

"Da... das geht nicht mit rechten Dingen zu." Mauro begann zu zittern. Er hörte Zähne klappern; einen Moment später wurde ihm klar, dass es seine eigenen waren. Aber das Kichern, das immer wieder erklang, das kam nicht von ihm. Er war ganz sicher.

Der Weg wurde schmaler. Mauro ließ sich eine halbe Länge zurückfallen. Der Nebel wurde noch dichter und dämpfte alle Geräusche ? bis auf das Kichern. Mauro vergrub sein Gesicht in der Mähne und begann zu beten.

Als sie die Bergkuppe erreichten, lichtete sich der Wald. Mauro blickte auf, doch er sah nichts. Vom Hof der Geschwister vermochte kein Licht zu ihnen heraufzudringen.

"Geschafft!", sagte Federico dennoch. "Jetzt können wir uns nicht mehr verirren." Dann: "Antonio?"

Der Knecht antwortete nicht; Federico fluchte.

Der Nebel hüllte alles ein, aber Federico ritt weiter. Nach wenigen Schritten bäumte sich sein Pferd auf und begann zu rutschen. Im nächsten Augenblick waren beide verschwunden.

Da brach der Nebel auf und Mauro sah den Steilhang der Moräne vor sich. Es kicherte wieder. Erschrocken riss er sein Pferd zurück; das stieg und preschte los. Mauro umklammerte den Hals, schloss die Augen und betete noch inbrünstiger als zuvor.

Vor die Stalltür des Guts angekommen, blieb das Pferd schließlich stehen. Halb ohnmächtig ließ sich Mauro auf den Boden gleiten. Das Pferd schnaubte leise; dann spürte er sein weiches Maul an der Wange. Gleich darauf fühlte er noch eine andere Berührung; mühsam öffnete er die Augen. Rosalba kniete vor ihm und hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt.

"Bist du in Ordnung? Was ist passiert?" Sie half ihm, sich aufzurichten. "Ich hab gewartet und dann hörte ich den Hufschlag. Wo sind die anderen?"

"Ich weiß es nicht." Mauro unterdrückte das Schluchzen, das er in der Kehle spürte. "Wir haben uns im Nebel verloren. Federico ist die Moräne hinabgerutscht. Mein Pferd ist mit mir durchgegangen."

"Nebel?" Sie sah ihn verwundert an. "Komm in die Küche. Ich mach dir einen Wein heiß."

Der Wein brachte Wärme in seinen Körper zurück und Mauro ordnete seine Gedanken. "Es war unheimlich; irgendwie." Er zog Rosalba auf die Bank. "Mein Mädchen", flüsterte er. "Du hast wirklich auf mich gewartet."

"Ich hab mir Sorgen gemacht; ich weiß gar nicht wieso. Ich konnt' nicht einschlafen." Sie schmiegte sich an ihn und er strich ihr übers Haar.

Dann schob er sie von sich und schaute sie an. "Zeit, dass du ins Bett kommst. Ich werde hier auf den Herrn warten."

Rosalba lächelte und nickte. "Morgen ist auch noch ein Tag." Sie küsste ihn auf den Mund; dann sprang sie auf.

"Warte, du wolltest es wiederhaben." Mauro zog das Amulett aus der Tasche und reichte es ihr. "Schlaf gut."

***

Roya grübelte über Moghoras Worte. Lybios bei den Sterblichen und ohne Kontakt zu der Zauberin? In was hatte er sich jetzt von der alten Flohbändigerin hineinziehen lassen? Ihr Stiefbruder brauchte wohl mal wieder Hilfe. Roya schimpfte vor sich hin, während sie ihre Seidengewänder gegen wetterfeste Kleidung tauschte. So viel Dämlichkeit konnte er nur von seinem menschlichen Vater geerbt haben.

Sie musterte die Gegenstände, die sie in den Nischen ihrer Wohnhöhle aufbewahrte. Drei Hand voll Rubine steckte sie schließlich ein; die sollten sich wohl als Tauschwerk eignen, um manch einen zum Reden zu bringen. Sodann ihr magischer Dolch für jene, denen friedlich nicht beizukommen war; und ein Säckchen mit Goldkörnern als Zahlungsmittel in den Herbergen und Tavernen der Anderen Welt.

Dann bestrich sie ihr Gesicht mit einer bräunlichen Flüssigkeit aus Korkeiche und zog Handschuhe an. Nun sah sie aus wie eine gewöhnliche Zwergin. Selbst der alte Grint würde sie nicht wiedererkennen.

Schon auf dem Weg zum unterirdischen See, der das Tor zur anderen Welt bildete, begann sie die Suche. Roya blieb immer wieder stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Geruchssinn. Sie versuchte, Lybios' Spur in der Welt der Sterblichen zu wittern. Als sie am Wasser stand, hatte sie die Fährte aufgenommen. Sie sprang.

***

Gegen Morgen träumte Rosalba, Mauro wolle die quietschenden Achsen der Kutschräder ölen. Plötzlich wachte sie auf. Das Quietschen kam vom Schrank. Aus den Augenwinkeln verfolgte Rosalba, wie die Tür sich langsam öffnete. Dann wurden die Kleider hochgewirbelt, als sei der Wind in sie hineingefahren.

Im nächsten Moment sprang eine in Leder gekleidete Gestalt aus dem Schrank. Rosalba fuhr hoch, rieb sich die Augen. Als sie wieder hinsah, stand das Wesen immer noch da. Rosalba bekam einen Lachkrampf. "Nein, das glaub ich nicht", prustete sie unter Tränen. "Es gibt keine Zwerge - und schon gar nicht mit bodenlangem lila Haar!"

"Ildor sei Dank; ich hab dich nicht erschreckt." Mit einem weiteren Sprung stand das Wesen am Bett und streckte die Hand zum Gruß aus. "Ich bin Roya. Wie heißt du, Mädchen?"

"Ro... Rosalba."

Roya hob die Bettdecke und schaute darunter. "Rosalba, ich suche meinen Bruder. Wo ist er?"

"Wer auch immer das sein mag, hier ist niemand. ? Wie bist du überhaupt reingekommen?"

"Das geht dich nichts an." Roya spähte unters Bett; ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. "Er muss hier gewesen sein", murmelte sie. "Ich kann ihn ..." Sie griff nach Rosalbas Schürze, die über dem Stuhl hing, und zog das Amulett aus der Tasche. "Das gehört dir nicht", stellte sie fest.

Rosalba erschrak; sie zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. "Ich hab es gefunden", hauchte sie. Vorbei der Traum von Unabhängigkeit; sie seufzte.

"Kein Geschenk also? - Dann ist es nicht dein!" Roya kam wieder ans Bett und zog Rosalba die Decke vom Gesicht. "Wo hast du es her?"

"Es lag gestern in der Wäsche. Als ich es fand, war Doriano schon fort. Darum hab ich es aufbewahrt." Rosalba begann, mit den Zähnen zu klappern; Royas bohrender Blick machte ihr Angst.

Aber die setzte sich mit einem Lächeln auf die Bettkante und zog einen Stoffbeutel aus den Falten ihres Rocks. "Das Amulett gehört auch diesem Doriano nicht; es gehört meinem Bruder. Ich behalte es." Roya kramte in dem Beutel; dann hielt sie Rosalba fünf Rubine unter die Nase. "Hier. Die schenk ich dir für deine Mühe." Sie nahm Rosalbas Hand und legte ihr die Steine hinein. "Wo finde ich diesen Doriano?"

© Annemarie Nikolaus

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