30.6.13

"Die Enkelin" - Ein Schnipps zum Reinschmökern

(...)

Square Dance war eigentlich ganz einfach, wenn man erst mal wusste, was sich hinter so merkwürdigen Calls wie „pass the ocean“ oder „ladies in, men sashay“ verbarg. Hinnerk nickte immer wieder anerkennend. Madeline genoss die Stimmung in der Gruppe, die Musik – und den betörenden Klang von Chris’ Singstimme. Jedes Mal, wenn ihr Blick auf ihn fiel, hatte sie das Gefühl, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.
Wenn sie Großpapa sagte, nach der Pleite mit Robert hätte sie einfach die nächste Gelegenheit ergriffen, die sich ihr angeboten hatte? Das müsste ihn eigentlich freuen. Tanzen war Tanzen ... Nein, war es nicht. Eben deswegen würde sie beim Square Dance bleiben. Bei dem Gedanken an Chris wurde ihre Kehle eng.
Madeline war so ins Grübeln versunken, dass sie Fehler zu machen begann. Chris’ kritisch gerunzelte Stirn hieß sie, sich besser zusammenzunehmen. Er sollte nicht denken, sie mache das wieder absichtlich.
Dann war das Training zu Ende und die Gruppe versammelte sich wie gewohnt an der Bar. Chris stand mit den anderen zusammen und diskutierte; hatte er entschieden, dass sie keine Nachhilfe bräuchte?
Madeline nippte unschlüssig an ihrem Prosecco, von Hinnerk in Beschlag genommen. Ihm war bald anzusehen, dass er sie am liebsten gefragt hätte, was mit ihr los war. Aber zu ihrer Erleichterung tat er es dann doch nicht.
Dann wollten Carola und Tanja gehen und Norbert fragte Madeline, ob er sie mitnehmen solle.
Chris bemerkte Madelines ratlosen Blick und kam zu ihnen. Offensichtlich hatte er die ganze Zeit auf sie geachtet, obwohl er in die Gespräche vertieft erschienen war. „Es ist spät; hast du trotzdem noch Zeit zu bleiben?“
„Ja natürlich.“ Als ob sie nicht die ganze Zeit darauf gewartet hätte.
Hinnerks Blick wurde noch wachsamer. „Üben? Ich kann auch noch bleiben.“
Chris’ Gesicht blieb ohne Ausdruck, als er antwortete. „Muss nicht sein.“ Warum schickte er Hinnerk nicht ausdrücklich fort?
Aber Hinnerk schien nichts verdächtig zu finden und als Chris mit Madeline in den Saal zurückging, bleib er nur kurz in der Tür stehen und verabschiedete sich, noch bevor sie anfingen zu tanzen.
Madeline war verspannt vor Aufregung und als Chris sie an der Hand nahm, hatte sie das Gefühl, sie würde von einer verräterischen Röte übergossen. Um zu verbergen, was in ihr vorging, verkrampfte sie sich noch mehr. Aber es nützte nichts.
Chris fasste sie an beiden Schultern und studierte ihr Gesicht. „Locker, Madeline.“ Er lächelte sparsam; sein Blick jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Sie lehnte sich an und er sog heftig die Luft ein. Er roch nach Pfefferminze und einem herben Aftershave, obwohl es Stunden her sein musste, dass er sich rasiert hatte. Der dunkle Schatten auf seinen Wangen gab ihm einen verwegenen Ausdruck.
Ihr fiel keine Entgegnung ein, die irgendwie witzig oder intelligent war. Aber sie begann sich zu entspannen. Dabei hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, er müsse sich anstrengen, cool zu bleiben. Da war nichts mehr von der Leichtigkeit der letzten Tage zu spüren. Irgendwann gab sie es auf, darüber nachzudenken und tanzte einfach nur.
„Ich fahre dich nach Hause“, sagte er, als an der Bar die Gläser von Margas Aufräumerei klirrten. Offensichtlich war dies das Zeichen, Schluss zu machen. Wartete Marga abends etwa, bis der letzte gegangen war? Chris hatte doch sicher einen Schlüssel für die Etage.
Dann gingen sie alle drei gemeinsam, aber Marga lehnte Chris’ Angebot ab, sie ebenfalls nach Hause zu bringen. „Ich brauche frische Luft und Bewegung, bevor ich schlafen kann.“
Es hatte wieder angefangen zu schneien und der Schnee hob sich hell gegen den unbeleuchteten Hof ab. „Der Hausmeister ist wahrscheinlich wieder in der Kneipe“, murrte Marga, während sie ihnen folgte und mit leicht von sich gestreckten Armen in ihre Fußstapfen trat.
Chris nahm Madeline an der Hand, um sie sicher über die rutschige Fläche zu führen.
An der Straße blieb Marga stehen. „Wir sind schneller zu Hause, wenn wir nicht mit dir fahren, Chris. Bis du dein Auto ausgegraben hast und auf den glatten Straßen ...“ Sie sah Madeline auffordernd an, als sie jedoch nicht reagierte, verabschiedete Marga sich und stiefelte zum U-Bahnhof.
Chris’ Auto stand nur ein paar Schritte entfernt, aber als Madeline einstieg, hatte sie schon eisige Füße und Hände. Es war bestimmt fünfzehn Grad unter null. Sie klemmte sich die Hände unter die Achseln, während Chris rundherum die Scheiben frei räumte. Bevor er losfuhr, griff er auf dem Rücksitz nach einer Thermodecke und hüllte Madeline darin ein.
„Du übertreibst!“
Er grinste. „Gelernt ist gelernt.“
Sie besah sich die Decke genauer. „Ist die etwa von der Feuerwehr?“
„Es ist eine, wie wir sie bei der Feuerwehr auch benutzen.“ Chris drückte auf den Startknopf und nach einem Moment der Besinnung sprang der Benzinmotor an.
Fahrzeuge des Winterdienstes waren nur vereinzelt unterwegs und Chris zog die Hauptstraßen dem Stadtring vor. Nachdem die Batterie warm geworden war, rollten sie lautlos durch die verschneite Stadt. Es war glatt und immer wieder bremste der Toyota von alleine ab, weil die Räder zu rutschen begannen.
Marga hatte recht gehabt; sie war gewiss mit der U-Bahn schneller zu Hause. Aber Madeline musste für den Heimweg mehrmals umsteigen und sie hätte sich an den Bushaltestellen die Füße abgefroren,
Chris war schweigsam. Ab und zu warf er ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. Sie dirigierte ihn und das war das einzige, was sie sagte.
Die Spannung zwischen ihnen wuchs.
„Danke“, murmelte sie, als er vor ihrer Tür hielt.
„Es war mir ein Vergnügen.“
Unwillkürlich kam sie ihm entgegen, als er sich ihr zuwandte.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Madeline stockte der Atem; dann wandte sie den Kopf und ihre Lippen trafen sich. Sein Mund war warm und weich und öffnete sich unter ihrer Berührung. Sie vertiefte den Kuss und er antwortete mit seiner Zunge. Doch dann wich er zurück.
„Madeline.“ Er räusperte sich. „Das dürfen wir nicht tun.“
Sie schnaubte empört. „Ich bin fast achtzehn!“
„Fast!“ Er schloss einen Moment die Augen; dann streckte er die Hand aus und zog sie an sich.
Um ihm noch näher zu sein, schlang sie die Arme um seinen Hals. „Küss mich, Chris.“ Sie rieb ihr Gesicht an seiner Wange; er stöhnte auf. „Küss mich, Chris.“ Mit zwei Fingern strich sie ganz langsam über seine Lippen.
Er gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie das Knurren eines Hundes aus tiefer Kehle. „Du machst mich wahnsinnig, Madeline.“ Er zog sie auf seinen Schoß. Und dann küsste er sie; intensiv, fordernd, bis sie keine Luft mehr bekam. Ihr Inneres entzündete sich.
Mit geschlossenen Augen lag sie in seinem Arm und spürte den heißen Wellen nach, die durch ihren Körper rollten. Was für ein schwindelerregendes Gefühl. Dass ein einfacher Kuss eine solche Wirkung haben konnte ... aber es war kein einfacher Kuss gewesen. Chris war verrückt nach ihr; da gab es keinen Irrtum.
„Chris ...“
Er legte eine Hand auf ihren Mund, streichelte dabei mit dem Daumen ihre Wange. „Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst.“
„Hier ist alles dunkel; niemand sieht uns. Und meine Eltern sind im Friedrichstadtpalast.“ Sie rutschte zurück auf ihren Platz. „Möchtest du meine Schmetterlingssammlung sehen?“
„Was?“ Er sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
„Das war ein running gag. Niemals würde ich die schönen Schmetterlinge aufspießen.“
Die Lachfältchen um seine Augen vertieften sich und waren jetzt selbst im Halbdunkel der Straße sichtbar. „Schlaf gut, Madeline.“
„Ich werde von dir träumen, Chris.“
Sein Blick war pure, unverhüllte Zärtlichkeit. Beschwingt stieg sie aus und stiefelte über die Einfahrt zur Haustür.
Als sie sich umdrehte, war er lautlos davongefahren. Madeline lächelte. In knapp zwei Monaten wurde sie achtzehn.
Sie holte sich ein Glas Milch und warf dann ihren Computer an. „Gute Nacht“, hatte Chris ihr von seinem Handy aus geschrieben. Ganz bestimmt war er verliebt in sie.
(...)

 
Die Enkelin von Annemarie Nikolaus. Liebesroman.
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