24.12.12

Die zwölfte Nacht von Annemarie Nikolaus


 Treganna, Cornwall, Weihnachtsabend 1072

Der Sturm toste um die Große Halle und übertönte wieder und wieder den Lärm der ausgelassen feiernden Dienstboten des Schlosses. Manch einem blieb dann das Lachen im Halse stecken; andere bekreuzigten sich und blickten erschreckt umher. 
Das Feuer in den beiden mächtigen Kaminen hatte Mühe, sich gegen den stetigen Druck des Windes zu behaupten. Rauch trieb bis hinüber zu dem hohen Tisch, an dem Sir Geoffroi, der neue Herr von Treganna Castle, mit seiner Familie saß: neben seiner Frau die Stieftocter Caitlin; an seiner Seite Amis, der eigene Sohn.
Der kleine Amis hustete, als er den Rauch einatmete. Als er immer angestrengter um Luft rang, klopfte Caitlin ihm auf den Rücken und hielt ihm dann eine Tasse Wasser hin.
Sorge stand in ihren Augen und sie lächelte mitleidig. „Trink; dann geht es dir gleich besser.“ Hoffentlich erstickte er daran. Wie sie ihn hasste, ihren Stiefbruder; mehr noch als den Normannen, mit dem ihre Mutter eine neue Ehe eingegangen war. Möge Gott verhüten, dass diesem Schwächling eines Tages Treganna zufiel, das doch ihr Erbe war. 
Amis überlief ein Schauer, als der Sturm plötzlich eine Tonlage höher pfiff.
„Frierst du?“ Sir Geoffroi wickelte ihn fester in seinen warmen Plaid.
„Nein, Sire. Ich habe mich erschrocken.“
„Vor dem bisschen Wind?“ Sir Geoffroi klang nun doch ein wenig ungehalten. „So nahe am Meer hat er mehr Kraft, als du es von ... Zuhause ... gewohnt bist.“
„Nay, Mylord,“ Wieder blickte Caitlin ganz sorgenvoll. „Das ist nicht der Sturm, der da draußen singt. Das sind ...“ Sie ließ ihre Stimme verklingen.
Amis wurde bleich und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.
„Caitlin! Du wirst diesem Aberglauben keine Nahrung geben.“ 
„Wie könnt Ihr das sagen, Mylord! Was wisst Ihr von unserem Land!“ Caitlin sprang empört auf und ließ sich auch nicht vom zornigen Ruf ihrer Mutter zurückhalten.
Nicht lange darauf kam Amis in Caitlins Schlafzimmer. „Schwester, was ist das, was du mir nicht erzählen darfst?“
Caitlin verdrehte die Augen über die verhasste Anrede. „Was wohl? Dein Vater will nicht, dass ich dir erzähle, was du von ihm nicht erfahren kannst.“ Sie winkte ihn näher ans Feuer und senkte die Stimme. „Wind, ja; das ist wohl wahr. Aber er kommt nicht vom Meer. Es ist die wilde Jagd, die in den Nächten bis Epiphania ihre Rache sucht.“
Der Junge räusperte sich und versuchte, seiner Stimme einen tieferen, erwachsenen Klang zu geben. „Caitlin, das ist wirklich ein Aberglaube.“
„Hast du nicht die Furcht in den Gesichtern der Dienstboten gesehen?“ Caitlin unterdrückte ein triumphierendes Lächeln, als der Blick des Jungen unsicher zu flackern begann. „Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Du bist doch nur ein kleiner Junge. Du kannst nichts dafür.“ 
Amis fuhr empört hoch.
„Es sind unsere erschlagenen Krieger.“ Caitlin lächelte. „Vater führt sie. Ihr habt unser Land gestohlen. Und seine Frau.“


Das Wetter wurde selten besser in den nächsten Tagen. Amis schlich furchtsam umher. Einmal zeigte Caitlin ihm ein von Spuren verwüstetes Schneefeld vor dem Schloss und der Junge begann, unbeherrscht zu zittern und nach Atem zu ringen. 
Ein anderes Mal folgten sie am Strand Hufspuren, die zum Eingang einer Höhle zwischen den Klippen führten. Caitlin nickte ihm bedeutsam zu und beobachtete unter gesenkten Augenlidern, wie er erbleichte, als sie vorschlug, die Höhle zu erforschen. Als sie nach seiner Weigerung allein gehen wollte, klammerte er sich furchtsam an sie und flehte, ihn nicht zurückzulassen. Interessiert beobachtete sie, dass er kaum Luft zu bekommen schien. Hieß es nicht, man könne vor Angst sterben?


Der Abend vor Epiphania brachte zum Schnee eine Springflut, die die tiefer gelegenen Ställe bedrohte. Sir Geoffroi hieß Amis, bei der Bergung der Pferde zu helfen; Caitlin bot sich freiwillig an. Um die Tiere vor dem Wetter zu schützen, wurden sie in die Höhlen in den Klippen gebracht.
Als es dunkel geworden war, führte Caitlin Amis abseits, wo es eine weitere Höhle geben sollte. Als sie den Windschatten verließen, pfiff der Sturm in hohen Tönen und fegte ihnen  etwas Mächtiges entgegen. Mit einem Aufschrei ließ Amis sein Pferd los und rannte davon. Den Hang hinunter zum Meer stürzte er und überschlug sich mehrfach, bevor er sich an einem Felsvorsprung halten konnte.
Gleich darauf kniete Caitlin neben ihm und half ihm, sich hinzusetzen.
Amis keuchte stoßweise. „Was ... was war das?“
„Was da auf uns zu kam?“ Büsche waren das gewesen, die der Wind losgerissen hatte; für Caitlin ein vertrauter Anblick. Doch sie machte ein besorgtes Gesicht. „Habe ich dir nicht gesagt, dass sich unsere gemordeten Krieger rächen werden? Heute Nacht – oder sie müssen ein weiteres Jahr warten.“
Amis’ Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Da war ein Geräusch über ihnen; dann schlugen Steine neben ihnen auf und rollten weiter den Hang hinunter.
„Dort oben ist jemand“, stammelte Amis mit bleichen Lippen.
Caitlin nickte. „Ich höre Hufschlag. Reiter.“
Amis röchelte und griff sich an die Brust. Sein Blick brach.

© 2012 Annemarie Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de

Mit historischen Randnotizen ergänzt und redigiert, veröffentlicht in: "Verjährt". Historische Kurz-Krimis.  Taschenbuch bei Amazon . E-Book auf allen großen Plattformen,  z..B. bei Kobo, Amazon, Weltbild, Google Play, Beam E-Books, XinXii, Smashwords

Von Annemarie Nikolaus ist auch der Weihnachtskrimi am 20. Dezember "Fromme Gaben"
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21.12.12

Die Weihnachtsstern-Diebe von Tine Sprandel



Maxvorstadt
Eine besonders eigene Einbruchserie plagt in diesem Dezember die Bewohner der Maxvorstadt. Vorzugsweise in den frühen Abendstunden öffnen Einbrecher Eingangstüren ohne Spuren zu hinterlassen. Sie entwenden systematisch alle Multimedia-Geräte: HiFi-Anlagen, Computer, Fernseher, Tablets, sogar die Router zur Steuerung solcher Geräte werden abmontiert. Das Süffisante dabei: Die Täter hinterlassen für jedes entwendete Gerät eine Minipflanze. Da es sich ausnahmslos um knallrote Weihnachtsterne handelt, laufen die Ermittlungen bei der Polizei unter dem Stichwort „Die Weihnachtsstern-Diebe“. Polizeichef Huber: „Wir gehen von mindestens zwei Tätern aus. Sie hinterlassen keine Spuren, sie arbeiten schnell und sorgfältig. Bargeld oder Schmuck interessiert sie nicht. An keinem Tatort stellten wir außer dem Diebstahl Schäden fest. Von den Tätern fehlt jede Spur.“

„Das muss man sich mal vorstellen, da spazieren zwei bis drei Männer -“
Arthur stand in der Wäscherei am Ende der Straße und verfolgte das Gespräch zweier Kundinnen, die vor ihm an der Reihe waren.
„Mindestens eine Frau ist dabei. Ist doch klar. Sie hinterlassen Pflanzen als Zeichen“, unterbrach die Kleinere von Beiden; Arthur kannte sie von den Spaziergängen mit seiner Hündin Fiona.
„Wie auch immer, da spaziert also eine Bande am frühen Abend in ein Haus, stellt den Karton mit Pflanzen vor der Tür ab und macht sich am Schloss zu schaffen. Wenn sie die Tür geöffnet haben, heben sie in aller Ruhe den Karton hoch und treten ein. Keiner merkt etwas. So funktioniert Nachbarschaft heutzutage“, schimpfte die Andere.
Arthur war ein alleinstehender Mann, Mitte Vierzig, und lebte schon seit 20 Jahren in der Maxvorstadt. Mit seiner Hündin Fiona liebte er ausgedehnte Streifzüge weit über das Viertel hinaus. In den letzten Wochen ging er nur noch zu unregelmäßigen Zeiten und sehr kurz mit seinem Hund Gassi und er verließ das Büro so oft wie möglich schon um halb fünf. Denn eines hatten die Einbrüche dieser Serie gemeinsam: Es traf nur Häuser und Wohnungen, die zwischen fünf Uhr und acht Uhr abends vereinsamt waren. Das stand nicht in der Zeitung, in der Zeitung stand auch nicht, wie viele Einbrüche bereits verübt wurden: Bis jetzt waren es fünf, zwei an einem Abend, an den darauffolgenden Abenden jeweils einer.
„Die Einbrecher müssen ihre Ziele sorgfältig ausspioniert haben, damit sie wissen wo sie in Ruhe arbeiten können,“ hörte sich Arthur reden – obwohl er es hasste in Geschäften mit anderen zu plaudern. Wenn er selber aufmerksamer gewesen wäre bei seinen Spaziergängen durch das Viertel, wäre ihm vielleicht noch eine Gemeinsamkeit aufgefallen: Es betraf nur Häuser, in denen ab zwanzig Uhr mindestens ein Fenster blau vom Fernseher erleuchtet war. Wohnungen mit  Glühbirnenlicht oder gar Kerzenschein wurden verschont. Aber das fiel Arthur nicht auf, vielleicht auch weil es in der Maxvorstadt viele Fenster gab, die blau schimmerten.
Arthurs Kollegin im Büro, Sybille fiel allerdings etwas auf: „Es ist eigenartig“, sagte sie, „Wenn die Diebe Technik hassen, warum verwenden sie dann eine Pflanze als Zeichen, die wie keine andere hoch industriell erzeugt wird? Ein Weihnachtsstern  hat doch nichts mehr mit Natur zu tun. Er darf nicht wachsen, er wird wie eine Kuckucksuhr produziert.“
„Ach so.“ Arthur kannte sich mit Pflanzen nicht aus und verstand nicht, was Sybille meinte. Das war meistens so, deswegen waren die Beiden auch nur Kollegen und keine Freunde.
„Ein Gutes hat die Sache,“ erklärte die Besitzerin der Wäscherei am Ende der Straße, „Wir halten hier im Viertel jetzt mehr zusammen. Haben Sie von der Bürgerwehr gehört, die sich gerade bildet?“
„Oja, mein Mann übernimmt die erste Schicht, heute“, erwiderte eine der Kundinnen.
Arthur dachte mit Greul an die aufgeregt vereinbarte Gemeinschaftsaktion. „Man hat mich nicht eingeteilt, aber ich gehe ja sowieso zweimal am Abend mit dem Hund“, nuschelte er.
Im Grunde wollte er gar nicht so viel verraten. Wer weiß, vielleicht steckte ja die Wäscherin mit den Tätern unter einer Decke? Sie kannte alle Gewohnheiten der Menschen im Viertel.
So harrte Arthur Abend für Abend in seiner Wohnung aus. Nicht jeden Tag, doch in unregelmäßigen Abständen passierten drei weitere Einbrüche. Die Verkäuferin in der Wäscherei hielt ihn auf dem Laufenden. Nach zwei Wochen wurde es Arthur dennoch zu viel. Er konnte und wollte nicht mehr jeden Abend zu Hause sitzen. In der Woche vor Weihnachten lud er seine Kollegin Sybille zum Essen in ein Restaurant ein. Weit weg, in der Innenstadt. Er wollte sich einfach nur ablenken. Er nahm Fiona mit, denn Sybille mochte Hunde, das wusste er.
Entweder aufgrund seiner angespannten Nerven oder aufgrund der Weihnachtsstimmung, auf jeden Fall kamen sie sich an diesem Abend näher. So nah, dass er sie auf einen Kaffee in seine Wohnung einlud. Sybille genoss Arthurs plötzliche Offenheit und willigte ein.
Sie betraten die Wohnung eng umschlungen. Arthur wollte kein Licht machen, er wollte Sybille gleich küssen. Sie taumelte etwas zurück und berührte den Lichtschalter, das Licht ging an und sie sah den Weihnachtsstern. Genau dort, wo neben der Telefonbuchse normalerweise der Router hing, stand ein kleiner roter Weihnachtsstern.
Hand in Hand schlichen sie ins Wohnzimmer. Zwei ebenso rote Pflanzen prangten auf dem Sideboard, eine weitere auf Arthurs Schreibtisch.
„Hast – äh hattest du noch mehr Geräte?“
„Einen I-Pod, er liegt im Schlafzimmer.“
Sie schlichen ohne die Finger voneinander zu lösen auch dorthin. Tatsächlich – ein Miniexemplar stand auf dem Nachtisch. Fiona knurrte. Arthur starrte auf sein sorgsam gemachtes Bett. Dann sah er zu Sybille und zum Weihnachtsstern und wieder zurück. Ein Lächeln spielte um ihre Augenwinkel und steckte ihn an. Plötzlich lachten sie beide laut los und ließen sich auf das Bett fallen.
„Wer wusste davon, dass wir heute ausgehen?“ flüsterte Sybille.
„Ich glaube die Verkäuferin in der Wäscherei weiß alles“, antwortete Arthur. Sie schüttelten sich vor Lachen.
„Der Abend ist es wert“, brachte Arthur noch hervor, dann küsste er Sybille.
Sie fanden zwar wenige Gesprächsthemen, aber sie lachten zusammen, das war das Beste, was ihm passieren konnte.
„Du bist die Allerschönste im Advent“, flüsterte er, während er seine Finger die Haut ihres Rückens fühlten.
„So nennt man den Weihnachtsstern auch“, kicherte sie.
„Ich weiß, ich hab mich informiert“. Arthur hatte den Verschluss vom Büstenhalter erreicht.

Am 27. Dezember erschien eine Annonce in der Stadtteilzeitung:
„Sehr verehrte Fernsehgucker und Computerjunkies, eine Statistik besagt, dass Fernsehkonsum und Computernutzung eng mit der Kinderzahl korreliert. Und zwar gegenläufig: Zu viel Multimedia  hemmt die Fruchtbarkeit. In diesem Sinn: Wir hoffen Sie hatten eine fruchtbare Vorweihnachtszeit! Wir wollten Sie natürlich nicht dauerhaft bestehlen, sondern  nur unseren Beitrag zur Steigerung der Geburtenrate leisten. Sie finden Ihre Geräte ...“ Es folgte eine Adresse in einem leerstehenden Haus. Unterzeichnet war die Annonce mit „Die Weihnachtsstern-Diebe“.

Man fand die Täter nie. Doch verzeichnete die Maxvorstadt im kommenden Jahr tatsächlich eine leichte Steigerung der Geburtenrate. Die Verkäuferin in der Wäscherei kannte jedes Baby mit Namen und Geburtsgewicht.

©Tine Sprandel

20.12.12

Fromme Gaben von Annemarie Nikolaus



Ebersbach, 1754
Hildegard  lugte durch ein Loch in der Bespannung des Karrens: Wald, nichts als Wald. Immer noch. Eine Landschaft in Schwarz und Weiß. Die Äste bogen sich schwer unter ihrer Last. Die verharschte Schneedecke brach knirschend unter den Rädern, während sich der Gaul seinen Weg auf dem kaum sichtbaren Pfad suchte. Immer wieder schnaubte er nervös und es schien, als wolle er stehen bleiben.
Hildegard kroch zähneklappernd unter ihre zerschlissene Pferdedecke.
„He, so wirst du ganz strubbelig!“ Margarethe hieb ihr mit der Flöte auf den Kopf. „Ich hab keine Zeit, dir die Haare noch mal zu richten, wenn wir in Ebersbach ankommen.“
Hildegard fuhr hoch. „Für heute ist es zu spät, um auf dem Markt aufzuspielen.“
„Mädel, streitet euch nicht schon wieder!“ Christian, ihr großer Bruder, schwenkte die Pferdepeitsche in ihre Richtung.
Hildegard schob Jakob, den jüngsten unter den Geschwistern, beiseite und nahm neben Christian auf dem Kutschbock Platz. Sie schmiegte sich an ihn. „Kaufst du mir neue Schellen?“
Christian nahm die Zügel in eine Hand und strich ihr mit der anderen über die dunklen Locken. „Willst du tanzen, meine Schöne, oder willst du essen?“
„Morgen ist Weihnachten!“ Hildegard zog einen Flunsch. „Jeder von uns sollte etwas geschenkt bekommen.“
Christian knurrte und brachte den Karren vor dem Anstieg zum Halten. „Besser, ihr steigt aus und geht den Raichberg zu Fuß hoch.“
Margarethe maulte, aber Hildegard war es zufrieden und sprang vom Karren. Mit einer Hand hob sie ihre Röcke, die andere fasste den Gaul am Kopfzeug. In der kalten Luft vereinigte sich ihre Atemwolke mit der des Pferdes, als sie mit weit ausholenden Schritten durch den hohen Schnee stapfte.

Der Raichberg war kaum mehr als ein Hügel. Talwärts glitzerte die weiße Fläche des abgeholzten Hangs in der untergehenden Sonne, unberührt bis auf die Spuren, die das Niederwald hinterlassen hatte. Der Blick war frei bis hinunter zur Fils, auf der mächtige Eisbrocken trieben. Dahinter ragte die schneebedeckte Turmspitze der Veitskirche zwischen den Häusergiebeln empor. Die Stadtwache zog an der Brücke auf und schloss am jenseitigen Ende den Schlagbaum hinter den Bauern und Marketendern, die die Stadt verließen.
Hildegard seufzte. Keine Gelegenheit mehr, die paar Kreutzer zu verdienen, die sie bräuchte, um ihren Geschwistern Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Den nächsten Markt gab es erst in Tagen. Christian brauchte so dringend ein neues Wams und Margarethe ein Schultertuch, das die durchscheinenden Ellenbogen an ihrem Kleid verdeckte. Und Jakob – er wuchs viel zu schnell. Hildegard seufzte noch einmal und wandte sich dem Karren zu.
„Du hattest recht“, befand Margarethe, als sie schließlich ebenfalls die Bergkuppe erklommen hatte, „wir sind zu spät.“
Hildegard zuckte die Schultern, nahm Jakob an der Hand und stapfte das Schneefeld hinunter, den heimwärts ziehenden Bauern entgegen.
„Flenn“, befahl sie ihm, während er neben ihr bergab stolperte.
„Ich kann nicht; und lauf nicht so schnell“, jammerte er.
„So.“ Sie schubste ihn in den Schnee und da er immer noch nicht weinte, schlug sie ihm kurzerhand ins Gesicht.
„Hilde!“, heulte er auf.
Als sie an der Straße ankamen, war Jakobs Gesicht rotz- und tränenverschmiert und er schluchzte vor sich hin. Hildegard löste das warme rote Tuch, das ihren Hals und den Ansatz ihrer Brüste verdeckte, und schlang es um die Taille.
Sie musterte die Wagen, taxierte die Pferde, die sie zogen. Dem fünften schließlich, auf dem ein Bauer in mittleren Jahren saß, stellte sie sich in den Weg; den Arm liebevoll um den weinenden Jakob gelegt.
„Herr, mein Bruder hungert“, sprach sie mit leiser Stimme. Sie versank in einem tiefen Knicks, dem Mann dabei einen großzügigen Blick auf ihre Blöße gewährend. „Hat Er vielleicht ein Stück Brot für ihn?“
Der Bauer leckte sich über die Lippen und kratzte sich dann am Kopf. „Nein“, sagte er schließlich.
Hildegard, die ihn unverwandt ansah, ließ Tränen in ihren Augen schimmern.
„Nicht weinen, schönes Kind.“ Er zog seinen Beutel aus dem Wams und begann darin zu kramen. Hildegard sah es zwischen den Fingern blinken und warf ihrem Bruder einen verstohlenen Blick zu. Jakob heulte lauter und ging näher. Der Bauer sah auf und reichte dem Jungen einen halben Kreutzer. „Hier; damit kannst du dich morgen satt essen auf dem Markt.“
„Der Herrgott segne Ihn.“ Hildegard knickste erneut und trat dicht an ihn heran. „Ich dank Ihm, Herr, dass er uns ein Weihnachten beschert.“ Ihre Augen blitzten und ein Lächeln vertiefte die Grübchen in ihrem Gesicht.
Der Bauer streckte die Hand aus, um ihr über die frostgerötete Wange zu streichen. Dann beugte er sich nach hinten und öffnete eine der Kisten, die auf dem Fuhrwerk gestapelt waren. Er nahm zwei Eier und eine Hartwurst heraus und gab sie Hildegard. „Damit ihr nicht hungrig schlafen geht.“ Er lächelte ihr zu und trieb sein Pferd an.
Jakob zupfte sie am Rock.
„Still!“ Sie zog ihn von der Straße fort. Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um und schaute dem Bauern hinterher. „Lauf!“

Vor dem Karren auf dem Raichberg brannte schon ein Feuer; Margarethe füllte den Suppenkessel mit Schnee.
Während die Glocken der Veitskirche zu ihnen hoch klangen, legte Hildegard Margarethe die beiden Eier und die Wurst in den Schoß.
„Immerhin.“ Sie nickte anerkennend.
„Wir haben noch mehr!“ Mit strahlenden Augen zog Jakob den halben Kreutzer aus der Tasche.
Hildegard feuchtete ihr rotes Tuch im Schnee an. „Wir kommen besser nicht mit, wenn ihr morgen in die Stadt geht“, sagte sie, während sie Jakob behutsam den Schmutz aus dem Gesicht wischte.
Christian feixte. „Ich dachte, du wolltest dir einen Liebsten suchen?“
„Ich find schon einen, wenn ich einen brauch’.“ Hildegard wiederholte Jakobs Worte: „Wir haben noch mehr!“
Sie griff in ihre Rocktasche und holte den Beutel des Bauern hervor. „Gesegnete Weihnachten.“

© 2012 Annemarie Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de

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16.12.12

Broker Teil 2 von Monique Lhoir



Die ersten Sonnenstrahlen schafften es durch die Ritzen der Jalousie, als Henry erwachte. Er schnellte hoch und starrte auf die Uhr. Es war bereits nach neun. Um acht Uhr hätte er in Heathrow einchecken müssen. Ungläubig rieb er sich die Augen, setzte bedächtig ein Bein nach dem andere aus dem Bett. Er fühlte sich krank, hatte Alpträume gehabt, schreckliche Alpträume. Vorsichtig lugte er ins Wohnzimmer und schloss rasch die Tür. Das war kein Alptraum. Sein Wohnraum sah aus wie nach der Schlacht von Waterloo. Stöhnend legte er die Stirn an das kühle Holz des Rahmens.
Doch dann straffte Henry energisch den Rücken. Nein, so schnell ließ er sich nicht unterkriegen. Er würde seinen unbekannten Feinden gegenübertreten, ihnen die Stirn bieten, gegen sie mit seiner ganzen Manneskraft kämpfen. Er, Henry Miller aus London, würde siegen – so, wie er immer gesiegt hatte.
Zuerst musste er den Flug umbuchen. Anschließend wollte er auf diesen unsichtbaren Hausgeist warten und ihm eine Erklärung für das Chaos abgeben. Mutig wollte er anschließend seinen Feinden in die Augen blicken und ihnen seine Meinung sagen, sie vielleicht sogar töten. Jawohl, so kampflos räumte ein Henry Miller nicht das Feld. Sie sollten wissen, wie mies ihre Geschäfte waren. Sie sollten wissen, dass sie damit ganze Länder und Völker zerstörten.
Henry tapste mit nackten Füßen entschlossen ins Bad. Auch hier blinkte und funkelte es vor Sauberkeit. Wie Hohn mutete ihn der frische Zitronenduft an. Wer weiß, welche Gifte dieses Mittel enthielt, das den Geruch verursachte und ihn langsam und qualvoll sterben ließen.
Trotzig drehte er den Hahn auf, ließ absichtlich die Duschtür einen Spalt offen stehen, sodass Wasser ins Bad laufen konnte. Seine Angst mutig überwindend stellte er sich laut singend unter den warmen Strahl, nahm übertrieben viel von dem giftig-grünen Gel und sah zu, wie der Schaum sich auf dem spiegelnden Chrom absetzte und anschließend über die Fliesen lief, sodass der Boden fast einem Wolkenmeer glich. Anschließend riss er mehrere Handtücher gleichzeitig vom Haken sowie aus dem Regal, schmiss eines auf den Boden, trat mit nassen Füßen mehrmals darauf herum, wickelte sich ein anderes um den Kopf und ein weiteres um die Hüften.
Triumphierend begutachtete er den vom Schwitzwasser verblassten Spiegel, an dem langsam Wassertropfen wie zum endgültigen Todesschlag hinunterliefen. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Langsam hob Henry beide Händen, spreizte die Finger und packte an das Glas. Genüsslich ließ er sie kreisen und verursachte so hässliche Schlieren, bis er verschwommen sein unrasiertes Gesicht sah. Nach vollendeter Arbeit trommelte er sich mit beiden Fäusten auf die Brust und ließ einen brüllenden Tarzanschrei los.
Ein Echo erklang. Henry hielt erschrocken inne und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Vorsichtig, aber dieses Mal leiser und um einige Oktaven tiefer, wiederholte er sein Manöver. Erneut ein Echo. Aber das war nicht seine Stimme, es klang – viel heller.
Wie erstarrt verharrte er, unfähig sich zu bewegen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass hinter der Tür sein Feind lauerte. Der Mensch oder das Wesen, das seinen Abstieg in Schmutz und Elend vorbereitet hatte, das seine gut und sorgfältig aufgebauten Mauern erschütterte und ihn in den Ruin treiben wollte. Ein Ungeheuer, das ihn, Henry Miller, mit seinen menschlichen Schwächen bloßstellte, ihn damit verletzbar machte und aus Habgier vernichten wollte.
Henry holte tief Luft. Ein Kloß schnürte ihm die Kehle zu. Nun war es so weit. Wohl oder übel musste er in die feindliche Welt hinaus. Wie gern hätte er einen solchen peinlichen Auftritt vermieden. Mit unsicherem Blick schaute er auf das Handtuch, das seine Hüften umschlang, um sicherzugehen, dass alles Notwendige bedeckt war. Vorsichtig drückte er die Klinke, öffnete die Tür einen Spalt und lugte hindurch.
Da stand sein Feind, inmitten des Chaos’, das er am Vorabend verbreitet hatte, hielt sich die Hand vor dem Mund und schaute mit großen Augen um sich. Ihre langen, rotlockigen Haare waren unordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Gehilfin des Teufels, die Besitzerin der schwarzen Pumps, die sein Leben zum Stillstand gebracht hatten. Entschlossen öffnete Henry mit einem Ruck die Tür, sodass er in voller Größe im Rahmen stand. Die junge Frau drehte sich erschrocken um, starrte ihn an und ließ erneut einen spitzen Schrei los.
Henry wuchs um einige Zentimeter, stolz darauf, dass er mit seiner Verkleidung den Feind in Angst und Schrecken versetzt hatte. Siegessicher und mit neuem Mut lief er mit nassen Füßen über den Marmorboden zur Kommode und hielt das Corpus delicti in die Höhe.
„Sind das Ihre?“, fragte er, bemüht, ein Stottern zu unterdrücken.
„Ich ... ich ... habe sie gestern nach dem Putzen vergessen“, verteidigte sich die Gehilfin des Teufels mit fremdländischem Akzent.
Henry stellte die Schuhe zurück auf den Boden.
„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragte er bescheiden, „könnten Sie die Pumps einmal anziehen?“ Er blickte verschämt in ihr junges, ängstliches Gesicht. Sommersprossen tanzten auf ihrer Nase. Henry fand sie atemberaubend. Seine Züge glätteten sich, fast war ein Lächeln zu erkennen. Er hatte gesiegt. Sein Feind war am Boden zerstört und so konnte er Großmut walten lassen.
„Natürlich ...“, stotterte die junge Frau und wechselte die Schuhe.
„Bezaubernd, wirklich bezaubernd“, sagte er um einen herrschaftlichen Ton bemüht und ohne sie aus den Augen zu lassen, senkte aber rasch den Blick, als er seinen Magen knurren hörte. Wie auf Kommando rutschte ihm im gleichen Moment das Handtuch von den Hüften. Rasch bückte er sich, wohl darauf bedacht, ihr nicht sein nacktes Hinterteil entgegenzuhalten, und bedeckte seine Blöße. Henry spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Sie kicherte.
„Haben Sie heute noch etwas vor?“, fragte er gefasst und knotete das Handtuch fest.
„Putzen“, gab sie knapp zur Antwort.
„Es ist Weihnachten.“
Sie senkte den Kopf. „Haben Sie in London Familie?“, wollte Henry weiter wissen.
„Óchi.“ Eine Träne löste sich und befeuchtete ihre Wange.
Henry grinste erleichtert. „Pos ße lene?“, fragte er.
Überrascht sah sie auf. „Helena.“

***

Yannis schlenderte mit hoch gekrempelten Hosenbeinen am Strand entlang und schaute in den sternenklaren Himmel. Seine dunklen Locken fielen ihm ungekämmt in die Stirn. Anschließend blickte er auf die hell erleuchtete, strahlend weiße Villa. Mama und Papa hatten sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie Millionäre waren. Statt sich Dienstboten zu holen, hatte Mama für die riesige Familie, die sich am heutigen Weihnachtstag versammelt hatte, gebacken und gekocht. Die Kinder und Enkelkinder tobten durchs Haus und warteten ungeduldig auf ihre Geschenke.
Yannis atmete tief durch. Als vor einem Jahr die Londer Broker, für die er gearbeitet hatte, den Zerfall der Euro-Zone in der Öffentlichkeit simulierten, war ihm bewusst gewesen, dass sich die Schlagzeilen in allen Weltzeitungen überschlagen würden: „Der weltgrößte Währungs- und Anleihebroker trifft bereits konkrete Vorbereitung für einen Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion“ – „Druck der Drachme wird vorbereitet“ – „Steht der Drachme vor der Rückkehr?“ – „Trockenübung für die Drachme“ – „Geheimer Zeitplan: Griechenland hat genau ein Wochenende Zeit, um die Drachme einzuführen. In 46 Stunden muss alles generalstabsmäßig vor sich gehen. Denn es muss gelingen, die Operation in der Zeit über die Bühne zu bringen, in der alle Börsen der Welt im Wochenende sind.“ – „US-Firmen planen für griechischen Euro-Austritt“. Und er, Henry Miller, hatte von der Angst der Anleger und der Währungsspekulanten profitiert. In nur wenigen Monaten konnte er soviel Geld beiseite schaffen, wie in den ganzen zehn Jahren zuvor nicht. Die Planungen für das vierte Hotel auf Kreta waren bereits abgeschlossen. Und die Touristen kamen. Seine neue Yacht hatte er in Auftrag gegeben.
„Kala Khristougenna.“ Helena trat bescheiden an seine Seite.
„Kala Khristougenna.“ Yannis griff in seine Hosentasche, zog den Schlüsselbund seines Penthouses mit der Fernsteuerung hervor und schleuderte ihn weit aufs Meer hinaus. Henry Miller gab es nicht mehr und man würde ihn nie finden, dafür hatte er jahrelang gearbeitet. Er war kein Londoner Broker mit Macken, er war mit Leib und Seele Grieche – aber das musste er erst wieder lernen. Mama und ihre Kochkunst würden dazu beitragen. Er fasste Helena an die Hand und lief befreit mit ihr in die weiße Villa. Mama würde bald noch mehr Enkelkinder versorgen müssen.

© Monique Lhoir

 Mehr von Monique Lhoir auf ihrer Homepage.
 


15.12.12

Broker Teil 1 von Monique Lhoir



Während Henry Miller aus dem Taxi stieg, rückte er seine Seidenkrawatte zurecht, klopfte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem grauen Jackett und schaute kurz zum Himmel. Tiefe, dunkle Regenwolken zogen vorbei. London bereitete sich auf Weihnachten vor. Energisch umfasste er den Griff des Regenschirmes, ein unverzichtbares Requisit in diesen Tagen, und hastete zur Haustür des Penthouses. Mit einem Code öffnete er die Tür, durchlief den mit Marmor gepflasterten Flur und betrat den Fahrstuhl. Im zwölften Stock angekommen betätigte er eine winzige Fernsteuerung, die er am Schlüsselbund trug. Ein leises Surren ertönte und ließ Henry seine Wohnung betreten; automatisch ging die Beleuchtung in sämtlichen Räumen an. Im Eingangsbereich stellte er den Aktenkoffer ab, zog seine Straßenschuhe aus und schlüpfte in karierte Filzpantoffeln. Wie jeden Abend blickte er aus dem großen Panoramafenster kurz auf die Themse, drückte den unauffälligen Schalter an der Wand und wartete, bis sich sämtliche Jalousien geschlossen hatten und ihn damit von der feindlichen Außenwelt abschotteten. Er war froh, dem ständigen „Merry Christmas“, der lauten Musik, dem bunten Geglitzer und den Menschen mit den albernen roten Nikolausmützen entkommen zu sein.
Erleichtert atmete Henry durch, ersetzte das Jackett durch einen seidenen Hausmantel, ging an die Bar und schenkte sich seinen wohlverdienten Whisky ein. Er setzte sich auf das schwarze Ledersofa, sorgfältig darauf bedacht, keine Falten in die drapierten Kissen zu machen. Alles hatte in Henrys Leben und insbesondere in seiner Wohnung eine Ordnung, eine penible Ordnung, in der nichts, aber auch gar nichts schief oder schräg sein durfte.
Er arbeitete seit über zehn Jahren hart von früh bis spät als Broker an der Londoner Börse, setzte täglich Milliarden um. Auf ihn konnte man sich verlassen, er war gefragt, wenn es um die ganz großen Summen ging. Und das funktionierte ausschließlich mit eiserner Disziplin und klaren Strukturen. Davon war Henry hundertprozentig überzeugt. Nur so konnte man der feindlichen Welt trotzen und ihr ein Schnippchen schlagen. Und das hatte er gemacht. Unbemerkt hatte er über die Jahre Gelder abgezweigt, sie gut und sicher im Ausland angelegt. Ein paar Millionen, nur ein Bruchteil davon, was seine Bank und die Währungsspekulanten durch ihn verdient hatten.
Henry nippte am Whisky und schaute sich zufrieden um. Die Einrichtung wirkte dezent und übersichtlich, alles aus Glas oder schwarzem Lack, symmetrisch angeordnet, ohne störende Farbkleckse. Klar, das Design hatte ihm viel Geld gekostet, doch jedes Möbel zeugte von ausgesuchter Eleganz und stand dekorativ an seinem Platz, nicht zu viel, damit nicht der Eindruck von Unordnung entstand. Nirgends entdeckte er ein Staubkörnchen, alles war blitzblank poliert. Täglich, wenn er an der Börse arbeitete, kam ein ihm nicht bekannter unsichtbarer Geist, den er sich anonym über eine Agentur besorgt hatte. Henry war stets bemüht, keinen Schmutz zu machen oder die geringste Kleinigkeit liegen zu lassen. Er empfand es als gefährlich, wenn dadurch irgendjemand Fremdes auf seine Person schließen könnte. Er wollte nichts verursachen, was menschlich anmutete, denn damit würde er verletzbar werden, eine Angriffsfläche für die Außenwelt abgeben. Nein, er wollte in dieser Stadt nicht auffallen, keine Kontakte, keine Freundschaften, keine Frauen, über die man auf ihn Rückschlüsse ziehen könnte. Er war einer dieser uniformierten, immer gleich aussehenden Broker dieser Stadt, mit stark gegelten modischen Einheitsfrisuren und regungslosen Gesichtern. Inzwischen dachte und handelte er bereits wie sie.
Henry öffnete den Aktenkoffer und nahm das Flugticket zur Hand. Alles war bis aufs Kleinste vorbereitet. Heute war sein letzter Tag in der Bank der City of London gewesen. Er hatte gekündigt und gesagt, er hätte ein umwerfendes Angebot eines New Yorkers Investors nicht ausschlagen können. Die Kollegen hatten ihm staunend geglaubt, denn sie wussten, dass er einer der Erfolgreichsten in dem Geschäft war.

Henry lehnte sich genüsslich zurück. Sein Blick schweifte über die Lackkommode – plötzlich erstarrte er und riss die Augen auf. „Was ist denn das?“ Langsam stellte er den Whisky auf den Glastisch, um ja keinen Tropfen zu vergießen. Vorsichtig schlich er zur Kommode, die eine edle afrikanische Skulptur zierte. Doch darunter standen – er sah näher hin – ein paar Lackpumps. Schwarz mit zierlichen Riemchen! Mit der Fußspitze schob er die Fremdkörper beiseite. Ekel erfasste ihn, als er anschließend einen davon aufhob und ihn gegen das Licht hielt. Angewidert verzog er seinen Mund. Offensichtlich handelte es sich um einen Frauenschuh, der extrem hohe Absatz ließ nichts anderes zu.
„Wer war in meiner Wohnung“, flüsterte er entsetzt und ließ den Lackschuh fallen. „Eine Verräterin. Etwa eine Kollegin aus der Bank?“ Ohne die Kommode aus den Augen zu lassen tastete er sich rückwärts zum Sofa und stieß dabei mit dem Knie an den Glastisch. Wie gelähmt setzte er sich und stierte die Pumps an. Wer besaß den Code zu seiner Wohnung? Wer war ihm auf die Schliche gekommen? Henry spürte, wie sein Herz zu rasen begann und anschließend unrhythmisch schlug. Angst überkam ihn, im nächsten Moment einen Herzinfarkt zu erleiden und auf diese Art und Weise frühzeitig zu Tode zu kommen. Der unsichtbare Hausgeist, der zum Putzen kam, würde ihn – ein schrecklicher Gedanke – am nächsten Morgen in seinem Hausmantel tot auffinden. Das war ein gut ausgeklügelter Mordversuch. Jeder in der Bank wusste um seine Pingeligkeit.
Im Angesicht seines nahen Endes schlug er verzweifelt auf die wohlgeordneten Kissen ein und verursachte so nicht nur Falten, sondern tiefe, knautschige Dellen in den Polstern. Voller Panik schaute er auf seine verwerfliche Tat, schnellte hoch, schnappte sich das Glas, hastete an die Bar und schenkte sich mit zittrigen Händen einen weiteren Whisky ein. Einige Topfen liefen daneben und hinterließen auf dem polierten Spiegel hässliche Pfützen. Mit Tränen in den Augen wischte er sie mit den Fingern weg, worauf sich unansehnliche Schlieren bildeten. Wer war sein Feind? Wer war hinter ihm her?
Nun war es mit seiner Beherrschung vorbei. Ein tierischer Schrei löste sich aus seiner Kehle, der in einem Hustenanfall endete. Mit geballter Faust schlug er sich auf die Brust. Das gefüllte Glas entglitt seinen Händen und fiel krachend auf den glatten Marmorboden, zerschellte und verteilte in der gesamten Wohnung Tausende von Splittern.
Wie hypnotisiert starrte er auf die sich ausbreitende braune Flüssigkeit, in der die Scherben schwammen. Sein gut organisiertes Leben war angesichts dieses Schmutzes zerstört. Mit letzter Kraft riss er den Seidenmantel auf, um sich Luft zu verschaffen. Die Knöpfe sprangen ab, einer kullerte mit einem hämischen Geräusch unter das Ledersofa.
„Das auch noch“, fluchte er und robbte los. Dabei verlor er seine karierten Pantoffeln, die nun in Abständen unsymmetrisch auf den Steinen liegen blieben. Einer davon besaß sogar die Unverschämtheit, verkehrt herum auf dem Filz zu landen. Ein Affront sondergleichen.
Das Kinn auf die Knie gestützt blieb Henry erschöpft vor dem Sofa sitzen und besah sich die Bescherung, die sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, tropften auf den gebohnerten Marmor und vermischten sich mit dem Whisky.
Den geretteten Knopf in seiner Hand betrachtend murmelte er: „Ich brauch unbedingt einen klaren Kopf. Ich bin völlig überarbeitet. Ich habe Raubbau mit meinem Körper betrieben, in den letzten zehn Jahren nie eine Pause gemacht, nie an mich gedacht. Nur an Profit. Kaufen – verkaufen – kaufen.“ Henry griff sich an den Kopf. „Ich muss schlafen, dringend schlafen. Das ist ein Wink. Ein Wink in Form schwarzer Pumps von einem unsichtbaren Teufel.“ Henry bekam eine Gänsehaut und begann zu frieren. Jetzt war die Zeit gekommen, wo sie ihn bestrafen wollten. Eine Strafe, die schlimmer nicht sein konnte, eine Strafe, die sein ganzes Leben verändern würde. Ein Dasein in einem schmutzigen Londoner Gefängnis.
Er rappelte sich schwerfällig hoch, zog langsam Hemd und Hose aus und ließ alles auf dem Boden liegen. Genauso entledigte er sich seiner Socken, roch kurz daran und warf sie völlig entkräftet, angewidert von dem Gestank, durch den Raum. Er schaffte es nicht mehr, unter die Dusche zu kommen. Voller Verachtung über seinen eigenen, menschlichen Geruch und angesichts der Tatsache, dass seine Feinde nicht mehr weit waren, verkroch er sich unter die Bettdecke, zog sie bis zum Hals hinauf und schlief bald ein.

Fortsetzung folgt.

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