Ebersbach, 1754
Hildegard lugte durch ein Loch in der Bespannung des
Karrens: Wald, nichts als Wald. Immer noch. Eine Landschaft in Schwarz und
Weiß. Die Äste bogen sich schwer unter ihrer Last. Die verharschte Schneedecke
brach knirschend unter den Rädern, während sich der Gaul seinen Weg auf dem
kaum sichtbaren Pfad suchte. Immer wieder schnaubte er nervös und es schien,
als wolle er stehen bleiben.
Hildegard kroch
zähneklappernd unter ihre zerschlissene Pferdedecke.
„He, so wirst du
ganz strubbelig!“ Margarethe hieb ihr mit der Flöte auf den Kopf. „Ich hab
keine Zeit, dir die Haare noch mal zu richten, wenn wir in Ebersbach ankommen.“
Hildegard fuhr
hoch. „Für heute ist es zu spät, um auf dem Markt aufzuspielen.“
„Mädel, streitet
euch nicht schon wieder!“ Christian, ihr großer Bruder, schwenkte die
Pferdepeitsche in ihre Richtung.
Hildegard schob
Jakob, den jüngsten unter den Geschwistern, beiseite und nahm neben Christian
auf dem Kutschbock Platz. Sie schmiegte sich an ihn. „Kaufst du mir neue
Schellen?“
Christian nahm die
Zügel in eine Hand und strich ihr mit der anderen über die dunklen Locken.
„Willst du tanzen, meine Schöne, oder willst du essen?“
„Morgen ist
Weihnachten!“ Hildegard zog einen Flunsch. „Jeder von uns sollte etwas geschenkt
bekommen.“
Christian knurrte
und brachte den Karren vor dem Anstieg zum Halten. „Besser, ihr steigt aus und
geht den Raichberg zu Fuß hoch.“
Margarethe maulte,
aber Hildegard war es zufrieden und sprang vom Karren. Mit einer Hand hob sie
ihre Röcke, die andere fasste den Gaul am Kopfzeug. In der kalten Luft
vereinigte sich ihre Atemwolke mit der des Pferdes, als sie mit weit
ausholenden Schritten durch den hohen Schnee stapfte.
Der Raichberg war
kaum mehr als ein Hügel. Talwärts glitzerte die weiße Fläche des abgeholzten
Hangs in der untergehenden Sonne, unberührt bis auf die Spuren, die das
Niederwald hinterlassen hatte. Der Blick war frei bis hinunter zur Fils, auf
der mächtige Eisbrocken trieben. Dahinter ragte die schneebedeckte Turmspitze
der Veitskirche zwischen den Häusergiebeln empor. Die Stadtwache zog an der
Brücke auf und schloss am jenseitigen Ende den Schlagbaum hinter den Bauern und
Marketendern, die die Stadt verließen.
Hildegard seufzte.
Keine Gelegenheit mehr, die paar Kreutzer zu verdienen, die sie bräuchte, um
ihren Geschwistern Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Den nächsten Markt gab es
erst in Tagen. Christian brauchte so dringend ein neues Wams und Margarethe ein
Schultertuch, das die durchscheinenden Ellenbogen an ihrem Kleid verdeckte. Und
Jakob – er wuchs viel zu schnell. Hildegard seufzte noch einmal und wandte sich
dem Karren zu.
„Du hattest recht“,
befand Margarethe, als sie schließlich ebenfalls die Bergkuppe erklommen hatte,
„wir sind zu spät.“
Hildegard zuckte
die Schultern, nahm Jakob an der Hand und stapfte das Schneefeld hinunter, den
heimwärts ziehenden Bauern entgegen.
„Flenn“, befahl sie
ihm, während er neben ihr bergab stolperte.
„Ich kann nicht;
und lauf nicht so schnell“, jammerte er.
„So.“ Sie schubste
ihn in den Schnee und da er immer noch nicht weinte, schlug sie ihm kurzerhand
ins Gesicht.
„Hilde!“, heulte er
auf.
Als sie an der
Straße ankamen, war Jakobs Gesicht rotz- und tränenverschmiert und er
schluchzte vor sich hin. Hildegard löste das warme rote Tuch, das ihren Hals
und den Ansatz ihrer Brüste verdeckte, und schlang es um die Taille.
Sie musterte die
Wagen, taxierte die Pferde, die sie zogen. Dem fünften schließlich, auf dem ein
Bauer in mittleren Jahren saß, stellte sie sich in den Weg; den Arm liebevoll
um den weinenden Jakob gelegt.
„Herr, mein Bruder
hungert“, sprach sie mit leiser Stimme. Sie versank in einem tiefen Knicks, dem
Mann dabei einen großzügigen Blick auf ihre Blöße gewährend. „Hat Er vielleicht
ein Stück Brot für ihn?“
Der Bauer leckte
sich über die Lippen und kratzte sich dann am Kopf. „Nein“, sagte er
schließlich.
Hildegard, die ihn
unverwandt ansah, ließ Tränen in ihren Augen schimmern.
„Nicht weinen,
schönes Kind.“ Er zog seinen Beutel aus dem Wams und begann darin zu kramen.
Hildegard sah es zwischen den Fingern blinken und warf ihrem Bruder einen
verstohlenen Blick zu. Jakob heulte lauter und ging näher. Der Bauer sah auf
und reichte dem Jungen einen halben Kreutzer. „Hier; damit kannst du dich
morgen satt essen auf dem Markt.“
„Der Herrgott segne
Ihn.“ Hildegard knickste erneut und trat dicht an ihn heran. „Ich dank Ihm,
Herr, dass er uns ein Weihnachten beschert.“ Ihre Augen blitzten und ein
Lächeln vertiefte die Grübchen in ihrem Gesicht.
Der Bauer streckte die Hand aus, um
ihr über die frostgerötete Wange zu streichen. Dann beugte er sich nach hinten
und öffnete eine der Kisten, die auf dem Fuhrwerk gestapelt waren. Er nahm zwei
Eier und eine Hartwurst heraus und gab sie Hildegard. „Damit ihr nicht hungrig
schlafen geht.“ Er lächelte ihr zu und trieb sein Pferd an.
Jakob zupfte sie am
Rock.
„Still!“ Sie zog
ihn von der Straße fort. Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um
und schaute dem Bauern hinterher. „Lauf!“
Vor dem Karren auf
dem Raichberg brannte schon ein Feuer; Margarethe füllte den Suppenkessel mit
Schnee.
Während die Glocken
der Veitskirche zu ihnen hoch klangen, legte Hildegard Margarethe die beiden
Eier und die Wurst in den Schoß.
„Immerhin.“ Sie
nickte anerkennend.
„Wir haben noch
mehr!“ Mit strahlenden Augen zog Jakob den halben Kreutzer aus der Tasche.
Hildegard feuchtete
ihr rotes Tuch im Schnee an. „Wir kommen besser nicht mit, wenn ihr morgen in
die Stadt geht“, sagte sie, während sie Jakob behutsam den Schmutz aus dem
Gesicht wischte.
Christian feixte.
„Ich dachte, du wolltest dir einen Liebsten suchen?“
„Ich find schon
einen, wenn ich einen brauch’.“ Hildegard wiederholte Jakobs Worte: „Wir haben
noch mehr!“
Sie griff in ihre
Rocktasche und holte den Beutel des Bauern hervor. „Gesegnete Weihnachten.“
© 2012 Annemarie
Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de
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Von Annemarie Nikolaus ist auch der Krimi am 24. Dezember "Die zwöflte Nacht"
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