20.12.12

Fromme Gaben von Annemarie Nikolaus



Ebersbach, 1754
Hildegard  lugte durch ein Loch in der Bespannung des Karrens: Wald, nichts als Wald. Immer noch. Eine Landschaft in Schwarz und Weiß. Die Äste bogen sich schwer unter ihrer Last. Die verharschte Schneedecke brach knirschend unter den Rädern, während sich der Gaul seinen Weg auf dem kaum sichtbaren Pfad suchte. Immer wieder schnaubte er nervös und es schien, als wolle er stehen bleiben.
Hildegard kroch zähneklappernd unter ihre zerschlissene Pferdedecke.
„He, so wirst du ganz strubbelig!“ Margarethe hieb ihr mit der Flöte auf den Kopf. „Ich hab keine Zeit, dir die Haare noch mal zu richten, wenn wir in Ebersbach ankommen.“
Hildegard fuhr hoch. „Für heute ist es zu spät, um auf dem Markt aufzuspielen.“
„Mädel, streitet euch nicht schon wieder!“ Christian, ihr großer Bruder, schwenkte die Pferdepeitsche in ihre Richtung.
Hildegard schob Jakob, den jüngsten unter den Geschwistern, beiseite und nahm neben Christian auf dem Kutschbock Platz. Sie schmiegte sich an ihn. „Kaufst du mir neue Schellen?“
Christian nahm die Zügel in eine Hand und strich ihr mit der anderen über die dunklen Locken. „Willst du tanzen, meine Schöne, oder willst du essen?“
„Morgen ist Weihnachten!“ Hildegard zog einen Flunsch. „Jeder von uns sollte etwas geschenkt bekommen.“
Christian knurrte und brachte den Karren vor dem Anstieg zum Halten. „Besser, ihr steigt aus und geht den Raichberg zu Fuß hoch.“
Margarethe maulte, aber Hildegard war es zufrieden und sprang vom Karren. Mit einer Hand hob sie ihre Röcke, die andere fasste den Gaul am Kopfzeug. In der kalten Luft vereinigte sich ihre Atemwolke mit der des Pferdes, als sie mit weit ausholenden Schritten durch den hohen Schnee stapfte.

Der Raichberg war kaum mehr als ein Hügel. Talwärts glitzerte die weiße Fläche des abgeholzten Hangs in der untergehenden Sonne, unberührt bis auf die Spuren, die das Niederwald hinterlassen hatte. Der Blick war frei bis hinunter zur Fils, auf der mächtige Eisbrocken trieben. Dahinter ragte die schneebedeckte Turmspitze der Veitskirche zwischen den Häusergiebeln empor. Die Stadtwache zog an der Brücke auf und schloss am jenseitigen Ende den Schlagbaum hinter den Bauern und Marketendern, die die Stadt verließen.
Hildegard seufzte. Keine Gelegenheit mehr, die paar Kreutzer zu verdienen, die sie bräuchte, um ihren Geschwistern Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Den nächsten Markt gab es erst in Tagen. Christian brauchte so dringend ein neues Wams und Margarethe ein Schultertuch, das die durchscheinenden Ellenbogen an ihrem Kleid verdeckte. Und Jakob – er wuchs viel zu schnell. Hildegard seufzte noch einmal und wandte sich dem Karren zu.
„Du hattest recht“, befand Margarethe, als sie schließlich ebenfalls die Bergkuppe erklommen hatte, „wir sind zu spät.“
Hildegard zuckte die Schultern, nahm Jakob an der Hand und stapfte das Schneefeld hinunter, den heimwärts ziehenden Bauern entgegen.
„Flenn“, befahl sie ihm, während er neben ihr bergab stolperte.
„Ich kann nicht; und lauf nicht so schnell“, jammerte er.
„So.“ Sie schubste ihn in den Schnee und da er immer noch nicht weinte, schlug sie ihm kurzerhand ins Gesicht.
„Hilde!“, heulte er auf.
Als sie an der Straße ankamen, war Jakobs Gesicht rotz- und tränenverschmiert und er schluchzte vor sich hin. Hildegard löste das warme rote Tuch, das ihren Hals und den Ansatz ihrer Brüste verdeckte, und schlang es um die Taille.
Sie musterte die Wagen, taxierte die Pferde, die sie zogen. Dem fünften schließlich, auf dem ein Bauer in mittleren Jahren saß, stellte sie sich in den Weg; den Arm liebevoll um den weinenden Jakob gelegt.
„Herr, mein Bruder hungert“, sprach sie mit leiser Stimme. Sie versank in einem tiefen Knicks, dem Mann dabei einen großzügigen Blick auf ihre Blöße gewährend. „Hat Er vielleicht ein Stück Brot für ihn?“
Der Bauer leckte sich über die Lippen und kratzte sich dann am Kopf. „Nein“, sagte er schließlich.
Hildegard, die ihn unverwandt ansah, ließ Tränen in ihren Augen schimmern.
„Nicht weinen, schönes Kind.“ Er zog seinen Beutel aus dem Wams und begann darin zu kramen. Hildegard sah es zwischen den Fingern blinken und warf ihrem Bruder einen verstohlenen Blick zu. Jakob heulte lauter und ging näher. Der Bauer sah auf und reichte dem Jungen einen halben Kreutzer. „Hier; damit kannst du dich morgen satt essen auf dem Markt.“
„Der Herrgott segne Ihn.“ Hildegard knickste erneut und trat dicht an ihn heran. „Ich dank Ihm, Herr, dass er uns ein Weihnachten beschert.“ Ihre Augen blitzten und ein Lächeln vertiefte die Grübchen in ihrem Gesicht.
Der Bauer streckte die Hand aus, um ihr über die frostgerötete Wange zu streichen. Dann beugte er sich nach hinten und öffnete eine der Kisten, die auf dem Fuhrwerk gestapelt waren. Er nahm zwei Eier und eine Hartwurst heraus und gab sie Hildegard. „Damit ihr nicht hungrig schlafen geht.“ Er lächelte ihr zu und trieb sein Pferd an.
Jakob zupfte sie am Rock.
„Still!“ Sie zog ihn von der Straße fort. Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um und schaute dem Bauern hinterher. „Lauf!“

Vor dem Karren auf dem Raichberg brannte schon ein Feuer; Margarethe füllte den Suppenkessel mit Schnee.
Während die Glocken der Veitskirche zu ihnen hoch klangen, legte Hildegard Margarethe die beiden Eier und die Wurst in den Schoß.
„Immerhin.“ Sie nickte anerkennend.
„Wir haben noch mehr!“ Mit strahlenden Augen zog Jakob den halben Kreutzer aus der Tasche.
Hildegard feuchtete ihr rotes Tuch im Schnee an. „Wir kommen besser nicht mit, wenn ihr morgen in die Stadt geht“, sagte sie, während sie Jakob behutsam den Schmutz aus dem Gesicht wischte.
Christian feixte. „Ich dachte, du wolltest dir einen Liebsten suchen?“
„Ich find schon einen, wenn ich einen brauch’.“ Hildegard wiederholte Jakobs Worte: „Wir haben noch mehr!“
Sie griff in ihre Rocktasche und holte den Beutel des Bauern hervor. „Gesegnete Weihnachten.“

© 2012 Annemarie Nikolaus
www.annemarie_nikolaus.de

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Von Annemarie Nikolaus ist auch der Krimi am 24. Dezember "Die zwöflte Nacht"
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